Kapitel 16 - Vince

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Vince hatte sich selten in seinem Leben so schlecht gefühlt. Nach dem Telefonat mit Flo konnte er nicht still sitzen bleiben und tigerte eine ganze Weile lang rastlos durch seine Wohnung. Der Sonnenuntergang goss goldenes Licht durch die Fenster, aber die Schönheit ließ ihn völlig kalt. Sein Magen fühlte sich an, als wäre er voller Steine, sein Kopf war gleichzeitig leer und voller Gedanken, die sich immer wiederholten. Flos Worte wurden immer wieder aufs Neue abgespielt und Vince wurde das Gefühl nicht los, alles nur Mögliche falsch gemacht zu haben. War Flo jetzt fertig mit ihm? Waren sie noch ein Paar?

Es hätte ihm klar sein sollen, dass seine eigene Unwissenheit über Beziehungen ihn diese hier kosten würde.

Als es draußen dunkel wurde und er immer noch nichts unternommen hatte, um die Sache wieder geradezurücken, rief er Nina an und bat sie um das einzige, was ihm einfiel: „Wir müssen das Video runternehmen."

Sie klang abwesend und hatte Schwierigkeiten, ihm zu folgen. „Was für ein Video?"

„Going Back To You!", erwiderte er, als wäre es offensichtlich. Er lief Kreise durch sein Wohnzimmer und die Idee erschien ihm mit jedem Schritt besser. Wenn erst das Video nicht mehr existierte, dann wäre auch das Problem gelöst.

„Warum in Herrgotts Namen willst du das Video löschen?", fragte Nina und hörte sich direkt wacher an.

Vince blieb kurz stehen, überlegte und zog dann weiter seine Kreise. „Der Kuss am Ende. Flo ist ... Flo ..."

Tiefes Seufzen. „Vince. Vincent. Hör mir zu: Erstens, du wolltest nicht, dass Flo deiner Karriere im Weg steht, das ist hiermit deine Erinnerung daran. Zweitens, wir könnten das Video runternehmen, aber das würde nichts nützen. Es ist sicher schon unzählige Male runtergeladen worden, außerdem haben mehrere Fernsehsender international die Ausstrahlungsrechte. Drittens, was ist denn genau passiert?"

Er atmete tief durch und erzählte ihr von dem vorherigen Gespräch mit Flo.

„Gut", sagte Nina am Ende, als stünde Vince' Welt nicht kurz vor der Apokalypse. „Ich halte vielleicht nicht unbedingt viel von deinem Flo, aber ich kann ihn verstehen. Hast du dich bei ihm entschuldigt?"

„Ja", sagte Vince, hielt dann aber wieder inne. „Warte. Hab ich?"

Nina ging überganslos in den Therapeuten-Modus. „Du hast ihn verletzt, Vince. Wenn du die Sache reparieren willst, entschuldige dich und beweise ihm, dass er derjenige ist, den du dir ausgesucht hast. Nicht, weil dein Tattoo dich dazu gezwungen hat -"

„Nina, das weiß er", unterbrach Vince sie.

„Bist du dir sicher?", fragte sie zweifelnd. „Er war dein Fan, bevor das alles angefangen hat. Und er ist ja nicht gerade der ... sagen wir, wahrscheinlichste Kandidat für eine filmreife Liebesgeschichte, oder?"

„Was meinst du damit?" Trotz allem wollte er Flo verteidigen. Obwohl er sich eigentlich ja wegen Flo fürchterlich miserabel fühlte. Aber er hatte geahnt, dass das die andere Seite der Liebe war. Auch wenn er es sich niemals so schmerzhaft ausgemalt hätte.

„Du weißt genau, was ich damit meine."

Ja, wusste er. Aber das würde er nicht zugeben. Vince wusste genau, dass Flo ein ehemaliger Krebspatient mit einer Beinprothese war, dem ein Jahr seines Lebens einfach so abhanden gekommen war, weil ein paar falsche Zellen in seinen Knochen falsche Dinge angestellt hatten. Dass Flo ein Waisenkind war, das Vince' Verlust nachempfinden konnte. Der trotz seiner traurigen Geschichten kein trauriger Mensch war. Und Vince verstand nicht, würde vielleicht nie verstehen, wie Flo auch nur eine Sekunde daran zweifeln konnte, dass Vince ihn wollte, nur ihn und niemand anderen. Er hätte ihn niemals eingetauscht für jemanden, der zwei Beine und keine traurigen Geschichten hatte. Nicht um alles in der Welt.

First & LastWo Geschichten leben. Entdecke jetzt