Kapitel 8 - Vince

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Am Anfang hatte es sich richtig gut angefühlt, mit Zettel, Stift und Notenpapier vor dem Klavier in seiner Wohnung zu sitzen. Endlich wieder schreiben, wieder seinen Gedanken freien Lauf lassen und spielen. Endlich Neues erschaffen.

Aber der Berg von zusammengeknülltem Papier war stetig gewachsen und mittlerweile saß Vince einfach da und starrte die Wand an. Das Problem war, er versuchte sehr angestrengt, nicht an Flo zu denken. Über Flo zu schreiben, fühlte sich wie Verrat an, als würde er ein Geheimnis verraten oder ein Versprechen brechen. Dabei war Flo alles, woran er denken und worüber er schreiben wollte. Es ging gar nicht anders, er musste es zulassen, sonst würde er nichts zustande bringen und das neue Album würde nie fertig werden.

Vince schloss die Augen und ließ seine Gedanken von der Leine. Zielstrebig kehrten sie zu dem Augenblick zurück, in dem er Flo zum ersten Mal gesehen hatte. Er hatte Mitleid gefühlt. Widerwillen. Er hatte nicht mit Flo reden wollen und Flo hatte es gemerkt. Kranken Menschen Hoffnung zu geben, ist eine tolle Sache, in der Vince noch nie sonderlich gut war. Er wollte jedes Mal weglaufen und konnte das nicht mal gut verbergen. Aber dann hatte Flo auf einen Schlag alles verändert.

Vince öffnete die Augen und griff nach einem weiteren Zettel. Innerhalb von Minuten war die Seite vollgeschrieben, alles durcheinander, ein wirres Chaos von Worten, die die reine Wahrheit über ihn enthielten. Er hatte schon oft so geschrieben, manchmal sogar mit einer ganz besonderen Person im Hinterkopf. Aber so angefühlt hatte es sich noch nie. Als würde er sein Herz offenlegen, obwohl der Song noch ganz am Anfang stand.

Langsam begann Vince die Zeilen zu ordnen, strich Dinge raus, unterstrich andere, fügte Zeilen hinzu. Vor seinen Augen entstand ein Bild, das er am liebsten niemandem gezeigt hätte. Obwohl … nicht niemandem. Irgendwann würde er es Flo präsentieren, der Person, der es gewidmet war. Die Versuchung war groß, Flo jetzt sofort anzurufen und ihm davon zu erzählen, aber Vince war dafür dann doch zu perfektionistisch. Zuerst sollte sein Werk fertig sein und dann würde er auf den richtigen Moment warten. Die Frage, ob Flo das Lied gefallen würde, setzte sich trotzdem wie eine Zecke in seinem Kopf fest.

Die Melodie zu seinem Text kam wie von allein. Als hätte sie schon immer in ihm existiert und nur darauf gewartet, gefunden zu werden. Seine Finger flogen über die Tasten, er dachte kaum nach, war nur froh, vorher die Aufzeichnungen angestellt zu haben, damit seine Entdeckung nicht mehr verloren gehen konnte. Er war sogar ein bisschen außer Atem als er die Hände von den Tasten nahm und wehmütig dem letzten nachhallenden Ton lauschte. Es war keine Ballade. Es war nicht traurig. Im Gegenteil, es war erhebend, voller Optimismus und Eindringlichkeit.

Es war wie Flo.

Vince hatte über seine eigenen Gefühle schreiben wollen und herausgekommen waren sie in einer Form, die er nur wegen Flo überhaupt zur Kenntnis genommen hatte.

Lächelnd beendete er die Aufnahme und hörte sich sein Werk noch einmal an. Hier und da musste es noch ein bisschen geschliffen werden, an einigen Stellen passte die Geschwindigkeit nicht und manchmal mussten die Töne angeglichen werden, aber ansonsten konnte man damit durchaus arbeiten. Er nahm Notenpapier und Bleistift zur Hand und machte sich daran, die Melodie aufzuschreiben.

Er arbeitete so vertieft, dass er fast vergessen hätte, pünktlich loszufahren, um Flo zu besuchen. Heute war ein besonderer Tag, denn Flo hatte ihm gestern geschrieben, er hätte mühsam die Erlaubnis errungen, einen Ausflug zu machen. Zwar ohne Prothese und im Rollstuhl und sie sollten sich nicht allzu weit vom Krankenhaus entfernen, aber Flo durfte raus. Zumindest für ein paar Stunden.

Natürlich hatte Vince gefragt, was Flo denn unternehmen wollte, aber die Antwort war nur ein <Überrasch mich ;) gewesen.

Der Gedanke, Flo mit hierherzunehmen, um ihm das Lied zu zeigen, war unendlich verlockend, aber dafür war es zu früh. Das würde Flo nur schräg finden und es war ja auch schräg. Vermutlich. Also blieb Vince beim ursprünglichen Plan, Flo in sein Lieblingscafé mitzunehmen, wo es guten Kaffee gab, nicht solche untrinkbare, angebrannte Plörre wie in der Krankenhauscafeteria.

Voller Vorfreude betrat er Flos und Naomis Zimmer und es war, als würde er vor eine Wand prallen. Die schlechte Stimmung war fast greifbar. Flo war nicht traurig und verzweifelt wie beim letzten Mal, er war wütend. Naomi schien geflohen zu sein, denn ihr Bett war verwaist.

„Hey“, sagte Vince vorsichtig zu Flo, der aus dem Fenster in den regnerischen Tag starrte.

Flo drehte sich abrupt zu Vince um und für den Bruchteil einer Sekunde huschte ein freundlicher Ausdruck über sein Gesicht.

„Hi, Vince.“

Sagte er mit Absicht seinen Namen? Auf Vince zeigte das nämlich jedes Mal Wirkung.

„Ist alles okay?“

Flo verzog den Mund und schüttelte den Kopf. „Es tut mir echt leid. Wir können heute doch nicht weg und es ist meine Schuld.“

Vince straffte die Schultern und setzte sich neben Flo aufs Bett. Ihre Schultern berührten sich und er war froh, dass Naomi gerade nicht da war.

„Was ist denn los? Ich wette, es ist nicht deine Schuld.“

Flo schaute ihn an und der Drang, sein Gesicht zu berühren, überkam Vince ohne Vorwarnung. Damit er dem nicht nachgab, verschränkte er die Hände im Schoß.

„Ich hab meine Prothese zu oft getragen“, erklärte Flo und schaute seitlich an Vince vorbei. „Jetzt hat sich deswegen was entzündet und ich darf nicht raus. Und eigentlich wollten sie mich diese Woche entlassen und jetzt geht das nicht.“

Ehe er sich umentscheiden konnte, legte Vince einen Arm um Flos Schultern und zog ihn an sich. Er rechnete mit Widerstand, aber Flo lehnte sich gegen ihn und schien allmählich ruhiger zu werden.

„Es tut mir echt leid, du wolltest bestimmt gerne mal was anderes sehen, als immer nur das Krankenhaus“, sagte Flo leise.

„Flo“, sagte Vince, der sich genau daran erinnerte, wie sehr Flo es mochte, wenn er seinen Namen sagte, „das Krankenhaus ist mir völlig egal. Solange ich dich sehen kann, würde ich dich überall besuchen.“

Vince unterbrach ihre Umarmung, damit er Flo seine Mütze nach unten ziehen konnte. Das brachte Flo immerhin zum Lachen.

„Hey!“, protestierte er und zog sich die Mütze ganz vom Kopf.

„Hör auf, dich dafür zu entschuldigen, dass es dir schlecht geht“, verlangte Vince.

Flo antwortete erst nicht, sondern griff nach Vince‘ Hand und hielt sie fest. „Du … ich …“ Er seufzte und schüttelte den Kopf über sich, während Vince sich daran erinnerte, Flo nicht allzu verliebt anzuschauen. „Ich fühle mich nur, als hätte ich dich unter Vorspiegelung falscher Tatsachen herkommen lassen“, gestand Flo schließlich.

„Ich wäre auch gekommen, wenn du mir vorher gesagt hättest, dass wir nicht rausgehen können“, entgegnete Vince. „Besser?“

„Ein bisschen.“ Flo lächelte schmal. „Mir geht es übrigens gar nicht schlecht. Es tut höchstens ein bisschen weh.“

Vince hielt das zwar für eine Untertreibung, aber er ließ es so stehen. „Meinst du, du kannst aufs Dach?“

Flo zog die Augenbrauen zusammen. „Es regnet wie aus Eimern.“

„Heißt das ja?“

„Ich könnte. Aber –“

Vince beugte sich blitzschnell vor und lehnte seine Stirn an die von Flo. Das brachte Flo zum Schweigen, worüber Vince außerordentlich zufrieden war. „Gib mir eine Stunde, dann bin ich wieder da. Okay?“

„Okay“, wisperte Flo. „Was hast du vor?“

Vince verriet kein Wort, sondern drückte Flos Hand noch einmal, ehe er aufstand und sich aus dem Staub machte.

Eine Stunde später hatte er auf dem menschenleeren Dach unter einem hölzernen Unterstand die klapprigen Tische und Stühle zur Seite geräumt und eine Picknickdecke ausgebreitet. Er hatte Fingerfood eingekauft, Obst, Schokolade und alkoholfreien Sekt. Flo traute seinen Augen nicht, als er auf Vince‘ Nachricht hin aufs Dach gerollt kam und hielt inne. Man konnte ganz deutlich sehen, dass er nur zu gerne etwas sagen würde, ihm aber absolut nichts einfiel.

Vince trat unter dem Unterstand hervor in den Regen und machte eine galante und einladende Bewegung mit dem Arm. „Darf ich bitten?“

„Du wirst ganz nass“, sagte Flo und bewegte sich keinen Millimeter.

Grinsend ging Vince durch den strömenden Regen auf ihn zu und schob den Rollstuhl unter den Unterstand. Dann bot er Flo seine Hand an und stützte ihn, bis er sich hingesetzt hatte. Vince wusste sehr wohl, wie gut Flo auch alleine zurechtkam, aber er demonstrierte gern seine Unterstützung. Im wahrsten Sinne des Wortes.

„Hast du das alles gerade eben gemacht?“, fragte Flo und betrachtete das Picknick.

Vince griff nach der Sektflasche und nickte. Er ließ den Korken knallen und er flog in hohem Bogen vom Dach.

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