Kapitel 9 - Flo

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Aylin half ihm aus dem Rollstuhl auf die Liege, welche in ein paar Minuten in die CT-Röhre geschoben werden würde. Anja wartete draußen und ihre Aufregung drang durch die Wände wie Schleim in alten Horrorfilmen. Es war der letzte, der alles entscheidende Scan. Er war so wichtig, dass Flo Vince kein Wort darüber gesagt hatte. Falls jetzt etwas schiefging, wollte er entscheiden können, ob er Vince da mit reinziehen wollte oder nicht.

Die Entzündung an seinem Stumpf war abgeklungen und er hatte in den letzten Tagen wieder mit der Prothese arbeiten dürfen. Sein Physiotherapeut hatte gestern gesagt, Flo hatte eigentlich ziemlich den Bogen raus und der Rest wäre einfach nur Übung.

„Stillhalten, kennst du ja", sagte Aylin zu Flo und klopfte ihm wohlwollend aufs vorhandene Bein, ehe sie den Raum verließ und die Liege sich langsam in die Röhre schob. Kurz darauf wurde es laut und die typischen klopfenden Geräusche des CT Scanners erfüllten das Zimmer. Flo hatte das inzwischen so oft gemacht, dass er es ausblenden konnte. Heute würde es sich entscheiden. Wann er rausdurfte, ob wieder irgendwas dazwischenkam, oder ob das Kapitel KREBS in Flos Leben endlich abgeschlossen war.

Es dauerte ungefähr zehn Minuten, bis der Scanner abgeschaltet wurde und Aylin ihm wieder in seinen Rollstuhl half.

„Und?", fragte Flo, voller dunkler Vorahnungen, „wie sieht's aus?"

„Komm schon, Flo", erwiderte Aylin in ihrem typischen angenervten Ton. „Du weißt, dass ich dir nichts sagen darf."

Flo brummte und sie beugte sich zu ihm herunter. „Unter uns gesagt: Es sieht gut aus. Ich bin keine Expertin, aber mir ist nichts ins Auge gesprungen, auf den Scans."

Flo grinste sie an, wagte es aber kaum zu hoffen.

Sie brachte ihn zu der Kabine, in der alle seine Klamotten und die Prothese lagen und er begann sich anzuziehen und sein Bein anzulegen. Danach humpelte er zurück auf den Korridor, wo seine Tante ihn erwartete. Zusammen gingen sie langsam zum Büro von Dr. Adamczak. Anja passte ihr Tempo an Flos an, was er zu schätzen wusste. Er konnte es trotzdem nicht erwarten, sich endlich wieder normal fortzubewegen. Und dank Vince war das möglich. Mit genug Übung würde er sogar kurze Strecken mit der Prothese rennen können. Bis dahin lag noch ein langer, humpelnder Weg vor ihm, aber er hatte ein Ziel, das es zu erreichen galt. Und es würde sich so was von lohnen.

Dr. Adamczak ließ sie nicht warten. Auch Dr. Voss war dabei. Es war genauso wie jedes Mal, wenn sie Flo gesagt hatten, dass die Chemo nichts gebracht hatte. Dass sie sein Bein abnehmen mussten. Dass irgendwas entzündet war, irgendein Blutwert nicht stimmte, sie noch mal scannen mussten. Von der Tür bis zu den Stühlen vor dem Schreibtisch waren es fünf Schritte, aber sie kamen Flo vor wie ein Marathon.

Dr. Voss stand hinter Dr. Adamczaks Stuhl und wartete, lächelte angestrengt, während sie über die Gläser ihrer randlosen Brille hinweg auf ihren Computerbildschirm starrte. War er nur so nervös, weil das eben Dr. Adamczaks Ausstrahlung war? Sie verbreitete eine Aura, die auch Flo regelmäßig zittern ließ. Er hatte Lehrer gekannt, die das ganz ähnlich draufgehabt hatten.

Plötzlich wünschte er sich, er hätte es Vince doch erzählt. Viellicht hätte Vince sogar angeboten, bei diesem Gespräch dabei zu sein. Oder zumindest in der Nähe. Dann hätte Flo entweder seine Hand halten können oder ihm auf dem Korridor in die Arme fallen, egal wie es laufen würde. Eine Umarmung zum Feiern oder zum Trösten. Aber Flo hatte es ihm nicht gesagt. Jetzt war er sich nicht mehr sicher, warum.

Dr. Adamczak schnalzte einmal mit der Zunge und drehte dann endlich den Kopf zu Flo und Anja. Ihre Miene verriet absolut nichts, sie hätte auch aus Stein sein können, wäre da nicht der intelligente Schimmer ihrer hellgrauen Augen gewesen.

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