XIII

58 5 1
                                    

Ohne Reaktion sah Alassen auf den glänzenden schwarzen Turm in der Ferne. Tingilya, Celeborn und Thranduil, die drei Elben, waren vorgegangen, um die Gegend um die einstige Festung des verräterischen Istari Saruman auszukundschaften. Alassen hingegen saß allein und in seinen traurigen Gedanken versunken auf einer geschützten Anhöhe westlich des Gebirges. Die letzten südlichen Ausläufer des Nebelgebirges zogen sich vor ihm dahin, dahinter streckte der Wachtwald seine grünen Zweige in die warme Luft, die von der gewaltigen Fassade des Orthanc dominiert wurde. Auch wenn der wolkenverhangene Himmel der Szenerie ein geheimnisvolles Bild verlieh, hing Alassen weiter seinen düsteren Gedanken nach. Drei Tage war es nun her, dass Tino gestorben war. Der Sieg über die Orks hatte einen hohen, einen zu hohen Preis gehabt. Nachdem alle Orks verrichtet worden waren, hatten die Gefährten Tino in einer kleinen Grube beerdigt, die sie noch weiter ausgehöhlt hatten. Es war ihnen allen schwergefallen, von dem Hobbit, der ihnen inzwischen ans Herz gewachsen war, Abschied zu nehmen. Sein Schwert Stich hatten sie ihm auf die Brust gelegt, dann waren sie wehmütig weitergezogen, immer weiter gen Norden. Inzwischen waren sie auf Höhe des Fangorn-Waldes angekommen und hofften dort und im Wachtwald um Isengard in den Ents Verbündete und etwas Ruhe zu finden. Seit Tagen hatten sie kaum Schlaf gehabt, da sie stets damit rechnen mussten, von einer Gruppe von Orks aufgespürt zu werden und so waren sie alle am Ende ihrer Kräfte. Ein, zwei Tage Pause vor dem nächsten kräftezehrenden Teil der Reise würden ihnen allen gut tun, das war ihnen deutlich anzumerken. Alassen spürte, wie Aiya neben ihn trat, doch er hielt den Blick stumm auf dem Turm in der Ferne.
"Darf ich mich zu dir setzen?", fragte seine Schwester vorsichtig und Alassen beantwortete ihre Frage mit einem Nicken. Er hörte wie Aiya neben ihm zu Boden sank und seinem Blick folgte.
"Isengard", flüsterte Aiya mit ein wenig Ehrfurcht in der Stimme. "Wusstest du, dass der Orthanc früher eine Festung Gondors war?"
Alassen nickte erneut, sein Vater hatte ihm von der Geschichte dieses Ortes erzählt, als sie einmal auf der Reise nach Arnor und ins Auenland hier vorbeigekommen waren.
“Wie viel Ansehen diese Orte verlieren, wenn sie einmal dem Feind in die Hände fallen“, murmelte Aiya vor sich hin und Alassen fühlte sich an die Überreste von Osgiliath erinnert. Früher war diese Stadt die blühende Hauptstadt Gondors gewesen, heute waren von ihr nur noch stinkende Ruinen übriggeblieben, um die jeder rechtschaffene Reisende einen großen Bogen machte. Welches Schicksal würde wohl den Weißen Turm Minas Tirith erwarten?
“Die Bilder aus der Heimat verabschieden sich langsam“, sagte Alassen mit rauer Stimme, als er an seine Heimatstadt dachte. “Sie verschwimmen langsam und werden blasser und ich tue mir immer schwerer damit, sie in meinem Kopf wiederzufinden.“
“Ja, mir geht es ähnlich“, sagte Aiya leise. Ihre Stimme zitterte etwas. “Was ist, wenn wir Minas Tirith nie wiedersehen?“
“Das ist das Risiko, das wir auf uns genommen haben, als wir den Entschluss für den Kampf und gegen die Flucht getroffen haben“, meinte Alassen mit ungewohnt harter Stimme. “Was auch immer wir verloren haben, sei es unsere Heimat, unsere Eltern, Tino - all das sind nur notwendige Opfer, die geleistet werden müssen, um die Dunkelheit zu besiegen.“
“Das glaubst du?“
“Ja, Aiya, das tue ich“, antwortete Alassen und drehte sich zu seiner Schwester, die ihn verblüfft ansah. “Was denkst du, was mir die Kraft gibt, all diese Verluste zu überstehen?“
Aiyas Augen wurden noch größer. “Du bist in diesen Wochen, die wir nun von Minas Tirith fort sind, weiser geworden als in all den Jahren davor“, sagte sie erstaunt. “Es fällt mir oft schwer, mit all dem fertig zu werden. Danke dafür, Alassen.“
Zum ersten Mal seit Tagen schlich sich ein kleines Lächeln auf die Lippen des jungen Menschen. “Immer gerne, Schwester.“
“Denkst du, Vater und Mutter sehen uns gerade?“, fragte Aiya leise und sah zum Himmel. Alassen folgte ihrem Blick, doch als er die tiefen, dunklen Wolken sah, wandte er seine Augen wieder ab.
“Ich hoffe es“, antwortete er ihr. Dann räusperte er sich und unterbrach die kurze Stille. “Nicht zu viel in den Himmel sehen.“
“Was?“ Aiya wandte sich ihm zu, Verwirrung lag in ihren Augen.
“Nicht zu viel in den Himmel sehen“, wiederholte Alassen. “Das ist mein Trick, um das Böse auf Abstand zu halten.“
Er machte eine kurze Pause, in der er noch einen kurzen Blick auf die Wolken über ihm warf. “Weißt du, diese dunklen Wolken drücken mich nach unten. Sie geben mir das Gefühl, dass dahinter alles zu Ende ist, dass es keine Hoffnung mehr gibt. Doch das stimmt nicht. Hoffnung gibt es immer.“
Aiya nickte bloß, dann sprang sie plötzlich auf. “Tingilya kommt zurück!“
Alassen stand ebenfalls auf und als er neben seiner Schwester stand, sah er auch die Gestalt, die dort unten auf sie zugelaufen kam. Sie war vielleicht fünfhundert Meter von ihnen entfernt und kam direkt auf die kleine Gruppe der restlichen vier Gefährten zu. Der strenge Wind blies ihr das lange braune Haar aus dem Gesicht, sodass es hinter ihr her wehte und ihre Kleidung schien in den knapp zweieinhalb Stunden, die sie nun fort gewesen war, noch etwas dreckiger geworden zu sein. Schließlich war sie bei ihnen angekommen und blickte Alassen, Aiya sowie Durin und Théoden, die inzwischen dazugetreten waren, aus ihren sanften grünen Augen an.
“Die Ents erwarten uns“, war der erste Satz, der ihren lächelnden Mund verließ. “Sie freuen sich darauf, uns für einige Tage aufzunehmen.“
“Das ist toll“, sagte Alassen mit versteckter Begeisterung und gab seiner Frau einen flüchtigen Kuss auf den Mund.
“Celeborn und Thranduil sind direkt dort geblieben und warten auf uns“, fuhr Tingilya fort. Sie wirkte etwas außer Atem und ihre Augen irrten umher, als wäre sie sehr nervös.
“Ist alles in Ordnung?“, fragte Théoden brummend und sah Tingilya scharf an.
“Nun, vielleicht ist doch nicht alles ganz so einfach“, fuhr Tingilya mit leicht zitternder Stimme fort. “Es gibt da ein kleines Problem.“
“Ein Problem?“, fragte Aiya nach und zog die Augenbrauen nach oben. “Was für ein Problem?“
Tingilya atmete tief durch. “Kommt mit zu Baumbart, er kann euch das besser erklären. Aber so viel sei schonmal gesagt: Unsere Pause hier könnte deutlich kürzer werden als geplant.“

Der letzte Silmaril II: Botschaft des SchicksalsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt