XXVIII

45 4 0
                                    

“Komm zu mir“, flüsterte die Stimme erneut, wieder und wieder.
Aiya drehte sich im Kreis, versuchte, die Quelle dieser Stimme ausfindig zu machen. Nichts. Um sie herum war nur tiefe, endlose Schwärze ohne Form. Sie wusste nicht, was sie in ihrer Position hielt, sie konnte keinen Boden entdecken. Es war, als würde sie in dieser Schwärze schweben, einzig um dem Klang dieser Stimme zu lauschen, die sie jede Nacht zu hören schien.
“Komm zu mir“, wiederholte die Stimme diesmal eindringlicher, ohne nachzulassen. Es war die Stimme der Frau, die ihr damals den Weg in den Norden gewiesen hatte. War die Stimme damals schwach gewesen und ihre Zeit begrenzt, klang sie nun fest und bestimmt.
“Finde mich“, sagte die Stimme und Aiya wusste, dass ihr Traum hier enden würde, wie immer. Er hatte den gleichen Ablauf, Nacht für Nacht und wurde nur jedes Mal länger und eindringlicher. Schon spürte sie, wie ihre Füße den unsichtbaren Halt verloren und sie zu fallen begann. Dann stoppte ihr Fall und ihre Augen sahen in ein langsam heller werdendes Grau.

Langsam und vorsichtig öffnete Aiya ihre Augen. Die Wolken über ihr schienen heller zu werden, der Tag brach an. Aiya richtete sich auf und sah sich um. Rhudaur, das Land, in dem sie sich befanden, war im Winter kalt und grau. Halbhohes Gras überzog den teils gefrorenen Boden, das Land war flach. Im Norden des riesigen Ebene, am Rande des Nebelgebirges, erstreckte sich ein Nadelwald um die Quelle des Mitheithel, noch weiter im Norden lagen schließlich die Ettenmoore, hinter denen bereits die Lande von Angmar begannen. Es war bitterlich kalt und Aiya zitterte unter ihrer Decke, während sie in die Glut des verlöschenden Feuers starrte. Durin, der die Wache übernommen hatte, saß im Halbschlaf davor, während die anderen drei noch unter ihren Decken schliefen. Aiya nutzte die Stille, die über ihrem Lager lag, um über ihren Traum der vergangenen Nacht nachzudenken. Inzwischen verstand sie diese Träume immer besser und konnte die Botschaften, die die Valar ihr damit zu übermitteln versuchten, durchaus deuten. Diese Stimme, die sie seit Tagen im Traum zu sich rief, war die gleiche Stimme wie die der Frau, die sie damals im Traum gewarnt hatte, nach Moria zu gehen und ihr stattdessen den Weg zu sich gewiesen hatte. In den letzten Tagen waren diese Träume immer länger und intensiver geworden und Aiya spürte, dass sie diesem ersten Ziel, der Frau, die ihnen den Weg Morgoth weisen würde, immer näher kamen. Irgendwo hier, in dieser Gegend, musste sie sein. Seufzend drehte Aiya ihren Kopf nach rechts, wo Théoden neben ihr lag. Zumindest dachte sie das, doch der Platz neben ihr war leer. Nicht einmal eine Decke lag dort, es schien, als hätte dort nie jemand gelegen. Fast wäre sie aufgesprungen, um ihn zu suchen, als die Wahrheit sie mit voller Wucht traf. Théoden war entführt worden, die Orks hatten ihn zusammen mit Celeborn verschleppt. Es waren harte Tage für sie gewesen, Tage voller stummer Tränen und bleierner Stille. Sie alle hatten unter diesem Verlust gelitten und auch wenn Tingilya recht hatte und Morgoth keinen der beiden töten würde, waren Aiyas Schmerz und Trauer doch zu groß, um von solchen Erklärungen abgewimmelt zu werden. Dennoch wusste sie, dass sie damit fertig werden musste, denn nur, wenn sie Morgoth besiegten, bestand eine Chance, Théoden und Celeborn zu retten. Entschlossen stand Aiya von ihrem Lager auf. Sie würden den Weg zu Morgoth finden, koste es, was es wolle.

Thranduil konnte nicht leugnen, dass ihn fror. Seit sie die Gegend um Bruchtal verlassen hatten, war die Kälte des Winters über sie hereingebrochen, plötzlich und unerwartet. Das ganze Land Rhudaur schien in der Kälte erstarrt zu sein und die weißen Nebelschwaden hingen hier, in der Nähe des Nebelgebirges noch tiefer. Doch nicht nur die eisigen Temperaturen verschafften Thranduil kalte Gedanken, auch seine Instinkte, seine elbischen Sinne für die Natur sorgten für Nervosität beim blonden Elbenfürsten. Dieses Land schien verlassen, vollkommen entvölkert unter der schweren Decke der weißen Schleier. Nicht einmal irgendwelche Tiere waren zu sehen, man hörte keine Vögel. Das einzige Geräusch, das Thranduil neben seinem eigenen Atem ausmachen konnte, war das Pfeifen des schneidenden Windes, der sie wie eine Wand von vorne traf. Er warf einen kurzen Blick nach hinten, auf die Gestalten der vier Personen, die ihm folgten. Ihre Blicke waren gen Boden gerichtet, einerseits, um dem kalten Wind zu entgehen, anderseits auch, um nicht mit irgendjemandem sprechen zu müssen oder den Blicken der anderen Gefährten zu begegnen. Ein jeder von ihnen schien anders mit der Situation umzugehen, doch alle waren tief getroffen von der Entführung Théodens und Celeborns, die nun wieder mehrere Wochen zurücklag. Es war ein harter Schlag für sie alle gewesen und ihr Elan, diese Reise auf sich zu nehmen, war sichtlich geschrumpft. Trotzdem wusste Thranduil, dass sie alle nach wie vor bereit waren, ihr Leben zu riskieren, um Morgoth zu bekämpfen. Gleichzeitig schien dies das einzige zu sein, was eine geringe Chance versprach, Théoden und Celeborn lebendig wiederzusehen. Als Thranduil beinahe über einen Stein stolperte, riss er sich aus seinen Gedanken hoch. Aiya hatte ihn heute Morgoth wortkarg über ihren neuerlichen Traum berichtet und auch von ihrer Einschätzung, dass sie jener geheimnisvollen Frau nun bereits sehr nah waren. Thranduil erinnerte sich, dass sie sich bei ihrem ersten Erscheinen als “Tochter der Träume“ bezeichnet hatte und begann zu grübeln. Er hatte noch nie von einem solchen Titel gehört, auch war ihm kein Wesen bekannt, das, auch wenn es offensichtlich nicht den Valar angehörte, die Macht besaß, in die Träume anderer einzudringen. Wer auch immer diese Tochter der Träume war, sie mussten sie finden. Aiya meinte, dass sie sie wohl noch heute finden würden und auch Thranduil bekam langsam ein gutes Gefühl bei ihrer Suche. Trotzdem ließen ihn seine Instinkte nicht in Ruhe, es schien, als wollten sie ihn vor etwas warnen. Thranduil spürte genau, dass hier etwas nicht stimmte. Langsam blieb er stehen, der Rest der Gefährten tat es ihm gleich. Hastig sah er sich um, nach allen Seiten, doch die undurchdringliche Nebelwand raubte selbst seinen scharfen Elbenaugen die Sicht. Sie saßen in der Falle, wussten nicht wohin. Überall hin reichte die Sicht höchstens zehn Meter weit und Thranduil tat sich bereits schwer damit, Durin, der am Ende der Reihe ging, klar zu erkennen. Auch wenn er nichts sehen konnte, spürte er, dass sich eine Gefahr näherte. Überaus vorsichtig und vollkommen geräuschlos zog er sein Schwert. Noch war weiterhin nichts zu hören oder zu sehen, doch die Spannung war fast greifbar. Dann durchdrang ein leises und noch recht weit entferntes Krächzen die Stille und schreckte Thranduil auf.
“Orks!“, zischte er, dann sah er sich hektisch um. “Lauft so schnell ihr könnt, noch haben sie uns nicht bemerkt!“
Dann drehte er sich ein letztes Mal um und tauchte hinter Durin in die weiße Nebeldecke ein.

Der letzte Silmaril II: Botschaft des SchicksalsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt