Prolog

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502 E.Z., Menegroth (Doriath)

“Halt dich an mich“, flüsterte Dairon der jungen Elbin zu, die ihn begleitete. Ihr strahlend blondes Haar flog hinter ihr her, als sie dem Elben folgte und trotz ihrer nicht einmal achtzig Jahre hatte sie angesichts der drohenden Gefahr nicht etwa eine ängstliche, sondern eine wütende Miene aufgelegt. Der Teil Menegroths, den sie gerade im Laufschritt durchquerten, war tot. Die Stille, die sich über den Bereich gesenkt hatte, trug einen großen Teil dazu bei, doch auch die toten elbischen Soldaten auf dem Boden bestärkten dieses Gefühl. Es schien, als wäre keiner dem Angriff der Zwerge entkommen. Dabei war es viel weniger ein Angriff als ein Überfall gewesen, als die bewaffneten Zwerge vor knapp zehn Minuten aus ihrem Arbeitsraum in den tiefereren Ebenen Menegroths hervorgestürmt waren. Die Schreie Thingols, des Königs von Doriath waren schrecklich gewesen. Wie immer, wenn die Zwerge daran gearbeitet hatten, den Silmaril, den die Elben aus dem Bauch Carcharoths geborgen hatten, in das Nauglamír, das Halsgeschmeide der Zwerge einzuarbeiten, hatte Thingol bei ihnen gesessen, um ihre Arbeit zu überwachen. Nun war geschehen, was der König befürchtet hatte: So wie die Gier auf den Edelstein und das Schmuckstück ihn immer mehr verzehrt hatte, hatten diese auch von den Zwergen Besitz ergriffen. Anschließend waren die Diebe durch diesen Bereich nach draußen geflohen und hatten jeden getötet, der sich ihnen in den Weg gestellt hatte. Während sich einige Elben nun an die Verfolgung der Zwerge gemacht hatten, eilten Dairon und Nellas immer tiefer in die tausend Grotten hinein, um nach dem König zu sehen, um zu sehen, ob er noch lebte. Dennoch war Vorsicht geboten, konnten doch immer noch einige Zwerge in den Schatzkammern Doriaths ihr Unwesen treiben und die Schätze der Elben stehlen.
“Hörst du etwas?“, fragte Dairon im Flüsterton, als sie an der Treppe angekommen waren, die in die Schatzkammern Doriaths hinabführte. Nellas schüttelte zur Antwort den Kopf, dann begann sie die Treppe hinunterzuschleichen. Dairon folgte ihr schnell hinab in die dunkle Stille des Kellergewölbes. Unten angekommen, sahen sie zwei tote Elben links und rechts der Treppe liegen, offenbar die Wachen. Gegenüber der Treppe lag der größte Raum dieses Gewölbes, das den Zwergen in den letzten Tagen und Wochen als Werkstätte gedient hatte. Die sonst fest verschlossene Tür war nun weit aufgerissen und langsam schlichen die beiden Elben zur Öffnung und spähten hinein. Der dunkle Raum war unordentlich. Tische und Stühle lagen herum, doch sie konnten nur zwei Personen entdecken. Mitten im Chaos, das hier entstanden war, lag ein Zwerg auf dem Bauch. Eine Klinge war durch seinen Leib gefahren, er war mit völliger Sicherheit tot. Doch einige Meter rechts davon lag eine edel gekleidete Person auf der Seite und drehte ihnen den Rücken zu. Neben ihm lag eine kleine Krone, das dunkle Haar, das seinen Rücken bedeckte, war glanzlos zusammengefallen. Sofort rannten Dairon und Nellas zu König Thingol hin. Sein Gesicht war schmerzverzerrt und mit tiefen Furchen durchzogen, doch sein Atem ging flach.
“König Thingol“, flüsterte Nellas und sank auf die Knie. Sie spürte Angst in sich aufkommen, Angst, wie sie sie seit jenem Tag, an dem Túrin aus Doriath verschwunden war, nicht mehr gespürt hatte.
Dairon bückte sich währenddessen hinunter und begutachtete die tiefe Wunde in des Königs Bauch. Es war nicht viel Blut herausgeflossen, doch das kurze Schwert, das blutverkrustet neben der Wunde lag, hatte viele wichtige Organe durchdrungen. Es stand außer Frage, dass dem König nicht mehr zu helfen war, einzig sein mächtiges Elbenblut hielt ihn noch für kurze Zeit am Leben.
“Mein... Sohn“, flüsterte Thingol schwach und Dairon schreckte auf. Es war wahre Ewigkeiten her, dass ihn sein Vater als Sohn bezeichnet hatte. Vor all den Jahren, als Lúthien, seine geliebte Schwester aus dem Land des Zauns verschwunden war, um zusammen mit Beren dem Einhänder einen Silmaril aus Morgoths Krone zu stehlen, hatte sein Vater seine Wut an ihm ausgelassen. Er hatte Lúthien damals ihm Wald nicht vor Berens neugierigen Blicken verborgen, er trug die Schuld an ihrer Flucht. Es war eine schwere Zeit für ihn gewesen und schließlich hatte er Doriath verlassen. In einem Anfall von Jähzorn hatte der König Dairon das Geburtsrecht entzogen, er war nun nur noch einer der Elben, dazu noch ein Geächteter. Als Dairon später nach Doriath zurückkehrte, hatte Thingol gerade seinen Ziehsohn Túrin verloren. Einzig Nellas, die damals noch ein junges Elbenmädchen war, hatte ihm Glück geschenkt und ihn davon abgehalten, erneut zu fliehen. 'Mein Sohn' hatte Thingol ihn in all den Jahren nie mehr genannt.
“Mein Sohn“, wiederholte Thingol schwach und öffnete seine Augen. Langsam beugte kniete sich der Elb nieder, nachdem er der schwach lächelnden Nellas einen kurzen Blick zugeworfen hatte.
“Mein König?“, fragte Dairon und schluckte. Er spürte, dass Thingol in diesem Moment mehr als nur sein König sein wollte.
Ein sanftes Lächeln legte sich auf die Lippen des Königs. “Ich weiß, dass ich viel falsch gemacht habe, Dairon. Ich kann verstehen, wenn du mir nicht verzeihen kannst. Ich bin ein Narr, dass ich dir das nicht früher gesagt habe.“
Dairon traten Tränen in die Augen und er bekam kein Wort über die Lippen.
“Ich will dir einen letzten Rat geben, mein Sohn und dich um etwas bitten, wozu ich kein Recht habe.“ Thingols Hand bewegte sich zu seinem Mantel und er zog zitternd eine kleine Rolle hervor, die er Dairon reichte. “Diese Rolle darf niemals Morgoth in die Hände fallen. Doriath wird untergehen, du musst in den Westen fliehen, über die Berge hinweg.“
Dairon nickte nur. Vieles von dem, was ihm sein Vater gerade sagte, war ihm nicht unbekannt, auch wenn er die Wichtigkeit dieser Rolle nicht ganz verstand.
Thingol hustete verkrampft und schloss langsam seine müden, gebrechlichen Augen. “Sie... sie wird dir sagen, wann du sie öffnen sollst. Bis dahin musst du sie so sicher aufbewahren, als ginge es um dein Leben. Ohne diese Rolle ist jedes Leben westlich des Meeres dem Untergang geweiht.“
“Ich werde es tun, Vater“, antwortete Dairon mit leicht zitternder Stimme. Er könnte spüren, wie die Lebenskraft seinen Vater verließ. “Ich werde sie beschützen und von hier wegbringen.“
“Beeile dich, mein Sohn, sonst holt dich die Dunkelheit ein. Und denk immer daran, mein Sohn-“, ein heftiger Hustenkrampf erfasste den Elbenkönig, “denk immer daran, dass... dass ich dich l-“
Noch bevor Thingol seinen Satz vollenden konnte, sackte sein Kopf nach vorne in Dairons Hände. Stumme Tränen flossen über die Wangen des jungen Elben und er verstand, was sein Vater ihm sagen wollte. Sanft hauchte er ihm einen leichten Kuss auf die Stirn, dann stand er auf.
“Es ist Zeit“, sagte er mit erstaunlich fester Stimme, dann nahm er Nellas an der Hand. Sie wechselten einen bedeutungsvollen Blick, dann rannten sie Hand in Hand los.

Der letzte Silmaril II: Botschaft des SchicksalsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt