XXVI

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Das Rauschen des Wassers dröhnte Alassen in den Ohren. Vor wenigen Minuten waren sie am Bruinen angekommen und gingen flussaufwärts nach Süden, um eine Stelle zu suchen, an der sie den Fluss überqueren konnten. Auch wenn das Flussbett hier recht flach war, war der Strom durch die vielen kleinen Abstiege reißend geworden und er machte seinem Namen alle Ehre. Hier, zwischen den felsigen Ufern, die die Lautwasser an ihren ersten Abstiegen außerhalb des Nebelgebirges in eine enge und schwer zugängliche Bahn drängten, war es unmöglich auf die andere Seite zu gelangen, die Strömung riss alles mit sich. Weiter südlich jedoch wurde das Flussbett breit und die Landschaft sumpfig, hier konnten sie durchaus flache Stellen finden, an denen der Fluss passierbar war. Doch all diese Dinge gingen Alassen gerade nur durch den Hinterkopf. Er beschäftigte sich immer noch mit dem Rauch, den sie gesehen und als Angriff auf Bruchtal gedeutet hatten. Morgoth hatte einen Balrog geschickt, um den Widerstand der Elben zu brechen und Bruchtal dem Erdboden gleichzumachen. Es klang alles so sinnvoll, doch Alassen wollte diese Geschichte nicht glauben. Wie konnte es sein, dass Bruchtal, der wohl schönste Ort in ganz Mittelerde, nun einfach zerstört war, ein Raub der Flammen Morgoths? Nie wieder würde er das Grab seiner Großmutter besuchen können, nie wieder konnte er mit Tingilya am Wasserfall sitzen und den Sonnenuntergang, der sich im glitzernden Wasser spiegelte, betrachten. Alles erschien ihm so unwirklich und gleichzeitig so real, als läge sein Blick gerade auf den Ruinen Bruchtals.
"Mir geht es genauso", sagte Tingilya mit gepresster Stimme, als sie neben ihn trat. "Ich kann nicht glauben, dass dieser Ort, der uns so viele Erinnerungen geschenkt hat, auf einmal nicht mehr da sein soll."
Vorsichtig griff sie nach seiner Hand und Alassen umschloss ihre feinen Finger mit seinen eigenen. Sein Blick ging immer noch starr nach vorne, seine Augen schienen leer in die Ferne zu starren.
"So viel, dass uns genommen wird", antwortete er plötzlich mit schwacher Stimme und sein Blick traf Tingilyas grüne Augen. "Erst nehmen sie uns unsere Heimat, jetzt den Grundstein unserer Liebe..."
Beruhigend strich Tingilya mit ihren Fingern über Alassens behaarten Handrücken. Er hatte den Blick wieder von ihr abgewandt, den Kopf gesenkt. Vorsichtig legte sie ihm einen Finger an das Kinn, als er ruckartig den Kopf drehte. "Ich weiß nicht, wie ich das ohne dich durchhalten sollte, Tingilya."
"Ich bin deine Frau, Alassen. Ich werde dich nie verlassen, das weißt du doch." Tingilya lächelte ihm warm zu.
Alassen setzte gerade zu einer Antwort an, als er stutzte und stehenblieb. Auch Tingilya sah nach oben. Der Weg hatte sie ein wenig vom Flussufer weggeführt und links und rechts von ihnen erhoben sich nun hohe Felswände. Zu ihrer Rechten war nach wie vor das Rauschen des Bruinen zu hören, offenbar hatte der Fluss in wasserreichen Zeiten diesen kleinen Seitenarm ausgewaschen und später wieder verlassen. Alassen spürte sofort, dass hier irgendwas nicht stimmte. Die enge Schlucht hatte ein bedrohliches Aussehen und war mit den vielen größeren Steinblöcken, die im früheren Flussbett zurückgeblieben waren, für einen Hinterhalt perfekt geeignet.
"Wieso bleiben wir stehen?", knurrte Durin vom Ende ihres kurzen Zuges.
"Seht ihr nicht , was sich in dieser Schlucht verbergen könnte?", gab Celeborn spöttisch zur Antwort und winkte ab.
"Spart euch eure Scherze für ein andermal", giftete Durin zurück, bevor Thranduil einschritt.
"Ruhig, alle beide!"
Leise schlich er einige Meter voraus und kniete sich auf den Boden. Alassen war zu ihm getreten und sah zu, wie der blonde Elb den Stein genau untersuchte.
"Seht ihr das?", meinte Thranduil und deutete auf eine leicht schmutzige Stelle auf dem sonst recht sauberen Steinboden. "Diese Spuren stammen aus dem Süden, von den Sümpfen und sie sind frisch."
"Irgendetwas ist uns gefolgt", folgerte Théoden, der hinzugetreten war.
"Ja", antwortete Thranduil und nickte. "Offenbar werden wir bereits erwartet. Haltet eure Schwerter bereit."
Er zog seine gebogene Elbenklinge und winkte ihnen ihm zu folgen. Vorsichtig und beinahe lautlos schritt Thranduil voran. Er spürte genau, dass hier irgendetwas war, dass ihre Anwesenheit nicht billigte. Sie wurden beobachtet, aber auch wenn Thranduil sich pausenlos von einer Seite zur anderen umsah, fand sein Blick nichts als nackten Fels. So kamen sie langsam ans Ende der Schlucht, wo der Weg wieder zum Flussufer führte und für einen Moment dachte Thranduil, dass sie es geschafft hätten. Dann traten die Orks schnell und dunkel wie Schatten aus ihren Verstecken. Im Nu war ihre kleine Gruppe eingekreist, knapp zwanzig Orks sperrten ihnen den Weg nach hinten und vorne ab. An den Seiten lag Fels, auch hier gab es kein Entkommen. Je länger sich Thranduil umsah, desto schwieriger schien die Situation zu werden. Wann immer sie zuvor mit Orks zu tun gehabt hatten, waren sie stets mit der Überraschung auf ihrer Seite gewesen, dazu kam, dass sie eigentlich immer aus größerer Höhe angegriffen hatten. Beides davon war diesmal nicht möglich und auch wenn die Orks ebenfalls keine Schützen postiert hatten, so waren sie doch deutlich in der Überzahl. Während all dies durch Thranduils Kopf schoss, hatte sich keiner der Gefährten oder Orks auch nur bewegt. Offensichtlich sollten sie nicht getötet werden, sonst wäre dies wohl bereits vollzogen worden.
"Was wollt ihr?", fragte Thranduil deshalb und musterte die Orks reihenweise. Ihnen allen stand ein gewisser Hunger in den Augen und Thranduil konnte nur ahnen, wie lange sie ihnen nun schon folgten.
"Ihr werdet als Gefangene zum Herrscher von Mittelerde geführt", zischte der Anführer der Orks, ein wenig größer als seine Untergebenen, in Westron. "Er selbst wird euren Tod veranlassen."
"Das glaube ich kaum, Ork", antwortete Celeborn giftig und schwang seine Lanze.
"Euer Tod ist es, den Morgoth veranlasst hat", ergänzte Théoden wütend. "Als er euch auf uns ansetzte, hat er euer Todesurteil unterschrieben und wir werden es vollstrecken."
Der Ork antwortete mit einem kehligen Lachen und schüttelte den Kopf. "Ergreift sie."
Sofort stürzten die Orks mit gezückten Scimitaren auf die sieben Gefährten zu. Théoden hatte sein Schwert bereits aus der Scheide gerissen und seinen Schild gepackt. Mit einem lauten Schrei ging er ebenfalls auf die Orks los. Zwei Orks traten ihm gegenüber, der eine griff ihn von rechts, der andere von links an. Théoden hatte Mühe, sich gegen beide zu wehren und sein Schild musste einige Treffer einstecken, doch ein harter Tritt nach hinten, der einen seiner Widersacher für einige Meter nach hinten fliegen ließ, verschaffte ihm Zeit. Er duellierte sich heftig mit dem Ork, ließ sich von seiner Wut treiben und hatte schon bald die Oberhand gewonnen. Gerade wollte er zum Todesstoß ausholen, als eine Bewegung, die er im Augenwinkel erspähte, ihn zurückhielt. Schnell sprang er nach hinten und rammte dem Ork, der ihn angreifen wollte, sein Schwert in den Rücken. Für einen kurzen Moment verlor er seinen eigentlichen Gegner aus den Augen. Zulange, denn als der tote Ork aus seinem Blickfeld wich, war er entwaffnet und stand seinem Kontrahenten nur noch mit seinem hölzernen Rundschild gegenüber. Die Situation schien ausweglos, doch den ersten Schlag konnte er mit seinem Schild abwehren. Vorsichtig drängte er den Ork zurück und mit einem wuchtigen Zug seines Schildes schlug er ihm das Schwert aus der Hand. Théoden reagierte schneller als sein Gegenüber, das Schwert des Orks trennte dessen Körper Sekunden später in zwei Teile. Théoden schnappte nach Luft und wollte sich wieder dem Kampf zuwenden, als ihn etwas Schweres wuchtig von der Seite rammte. Théoden blieb nur mit Mühe auf den Beinen und bevor er sich Orientierung verschafft hatte, landete ein Schild hart auf seinem Kopf. Théoden spürte den Schmerz und die Wärme des austretenden Blutes. Langsam sank er auf die Knie und kippte zur Seite weg, dann wurde es vor seinen Augen schwarz.

Der letzte Silmaril II: Botschaft des SchicksalsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt