XXII

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Iodaìn ließ seinen Blick über das verborgene Tal von Imladris schweifen. Etwa einhundertfünfzig Orks schwärmten in den Gebäuden und auf den Plätzen Bruchtals umher, die kleine Siedlung war so belebt wie seit mehreren Tagen nicht mehr.
“Was denkst du, was sie so aufgescheucht hat?“, fragte er seinen elbischen Begleiter Elta, der neben ihm hinter dem Felsen kniete.
“Wüsste ich es, würde ich es dir sagen“, antwortete der Elb mit den kurzen und ungewöhnlich dunklen Haaren mit einem Schulterzucken. “Und da willst du rein?“
“Unser Vorrat geht zur Neige. Wenn wir nicht bald Arznei besorgt haben, hat Wethrìna keine drei Tage mehr zu leben“, antwortete Iodaìn mit möglichst fester Stimme, der das leichte Zittern jedoch deutlich anzumerken war. Auch wenn er aufgrund der Notsituation seiner Freundin natürlich so schnell wie möglich nach Bruchtal zurückkehren wollte, um die von Celeborn vorbereitete Arznei zu holen, verunsicherte ihn dieses ungewöhnliche Verhalten der Orks dennoch. Hatten die Orks etwa die rund siebzig Elben, die in Bruchtal verblieben waren und das Tal von Imladris rechzeitig vor dem Eintreffen der Orks verlassen hatten, entdeckt? Iodaìn dachte einen Moment darüber nach, verwarf den Gedanken jedoch schnell wieder. Ihr Lager war gut versteckt und die Orks schienen sich so sicher zu fühlen, dass sie nicht einmal Späher in die umliegenden Wälder schickten. Auch wenn sie auf ihren Jagdzügen nahezu den ganzen Wald, der das verborgene Tal umgab, durchstreift hatten, war ihnen bisher kein einziger Ork begegnet, sodass es äußerst unwahrscheinlich war, dass die Orks aktiv nach oben gesucht hatten. Irgendetwas anderes sorgte dafür, dass diese Orks seit Sonnenaufgang durch Bruchtal streiften und was immer es war, es schien sie durchaus anzutreiben.
“Sie bereiten sich zum Aufbruch vor“, sagte Elta plötzlich.
“Woher willst du das wissen?“, fragte Iodaìn erstaunt und blickte seinen Begleiter fragend an.
“Siehst du diese Taschen?“, fragte Elta und deutete auf etwa vier Dutzend brauner, ranziger Taschen, die aus der Ferne nur als winzige Punkte zu erahnen waren. “Die Orks nutzen sie nur auf längeren Reisen, um Nahrung und Grog zu transportieren. Mir scheint, sie brechen noch vor Mittag auf.“
“Dann kann es ja nicht mehr lange dauern“, antwortete Iodaìn mit Blick auf die Sonne, die ihren Höchststand bereits beinahe erreicht hatte. Dann rappelte er sich auf klopfte den Staub von seiner Hose.
“Wo möchtest du hin?“, fragte Elta verständnislos und erhob sich ebenfalls.
“Wenn die Orks abziehen, heißt das, dass der Weg nach Bruchtal frei ist“, entgegnete Iodaìn. “Ich muss diese Chance nutzen.“
“Was ist mit dem, was die Orks so aufgescheucht hat?“, meinte Elta.
“Darüber kann ich mir jetzt keine Gedanken machen“, sagte Iodaìn. “Du musst zurückgehen ins Lager. Informiere den Rest, was du gesehen hast und wo ich bin. Sendet Späher aus und bringt in Erfahrung, wieso die Orks Bruchtal verlassen. Ich habe das dumpfe Gefühl, dass auch wir nicht mehr lang hier bleiben werden.“
“Was ist mit dir, Iodaìn?“, fragte Elta besorgt.
“Ich komme zu euch, sobald ich die Arznei habe“, antwortete der Elb. “Wenn ihr aufbrechen müsst, dann tut es, selbst, wenn ich noch nicht zurück bin.“
Elta sah ihn für einen Moment fragend an, dann winkte er ab. Offenbar war ihm klar geworden, dass jeder Versuch, Iodaìn vom Gehenteil zu überzeugen, nutzlos war. “Nai tiruvantel ar varyuvantel i Valar tielyanna nu vilja“, sprach er als Abschiedsgruß, dann verschwand er zwischen den Bäumen.
Iodaìn sah dem Elben, den er in den letzten Tagen deutlich besser kennengelernt hatte, noch für einen Moment nach, dann schlug er einen schmalen und versteckten Weg, der steil ins verborgene Tal von Imladris hinunterführte. Während seine Füße ihn nach alter Gewissheit sicher ins Tal hinabtrugen, rumorte es in seinem Kopf gewaltig. Fast drei Monate war es nun her, dass Celeborn und Thranduil zusammen mit tausenden Elben das Tal verlassen hatten, vor etwa fünf Wochen waren dann die Orks eingetroffen. Dank eines aufmerksamen Spähers waren sie bereits zwei Tage zuvor auf das Kommen der Diener Morgoths aufmerksam geworden und konnten sich somit in sicherer Entfernung im Wald ein geheimes Lager einrichten. Eine kleine Gruppe hatte sich abgespalten und die Orks immer wieder attackiert, doch schließlich hatten die Orks die etwa zwölf Elben verfolgt und getötet. Die Stimmung im Lager war düster und gedrückt, die Dunkelheit, die um sich griff und immer näher zu kommen schien, raubte selbst den immer fröhlichen Elben einen großen Teil ihres Lebensmutes. Für Iodaìn war die Situation noch schlimmer, war seine Freundin Wethrìna nach der Wunde, die ihr der Armbrustbolzen vor drei Monaten zugefügt hatte, doch erschöpft und kraftlos und stecke zudem immer noch in Lebensgefahr. Der Bolzen war vergiftet gewesen und da er Wethrìna so nah am Herzen verletzt hatte, war die Behandlung sehr schwierig und zeitaufwändig. Celeborn hatte eine Arznei für sie hergestellt, die sie bei täglicher Einnahme nach etwa drei Monaten vollständig heilen würde. Auch wenn diese Zeit nun fast vorbei und die Wunde nahezu verheilt war, steckte doch immer noch ein kleiner Rest des Giftes in ihr. Bei ihrem Aufbruch aus Bruchtal hatten sie nicht die ganze Menge an Arznei, die Celeborn hergestellt hatte, mitgenommen, sodass ihr Vorrat in wenigen Tagen aufgebraucht sein würde. Iodaìn musste nun den Rest holen, um Wethrìna vor dem Tod zu bewahren, der sie ereilen würde, wenn sie für einige Tage ohne Arznei blieb. Gleichzeitig bescherte der plötzliche Aufbruch der Orks aus Bruchtal Kopfzerbrechen. Es war deutlich zu sehen, dass sie sich vor etwas fürchteten, dass wohl auf dem Weg nach Bruchtal war. Iodaìn hatte ein mulmiges Gefühl, je mehr er darüber nachdachte. Wenn sich sogar die Orks davor fürchteten, obwohl es ihnen doch höchstwahrscheinlich wohlgesonnen war, sollte es ihnen erst recht Angst einjagen. Doch Iodaìn verwarf diese Gedanken schnell. Er durfte sich jetzt nicht ablenken lassen, Wethrìna brauchte seine Hilfe. Vorsichtig ging er den Weg weiter, bis er an seinem Ende angekommen war. Direkt vor ihm fiel der Fels steil ab, doch der Weg bog scharf nach links ab, von oben kaum zu sehen. Iodaìn spähte um die Ecke. Er stand nun hinter den äußersten Gebäuden von Bruchtal, zwischen sich und der unsteten Stiege der flachen Treppen, die von dem schönen Platz, der einen wundervollen Blick auf den Wasserfall bot, in die höheren Ebenen von Bruchtal führten, lagen etwa zehn Meter. Zwar konnte er von hier aus keine Orks erkennen, doch er wusste, dass er trotzdem vorsichtig bleiben musste. So hart es auch war: Starb er bevor er Wethrìna wiedertraf, war auch sie zum Tod verdammt. Iodaìn atmete einmal tief durch, dann schlich er sich leise und schnell zum unteren Ende der Treppen. Auch weiter oben konnte er keine Orks erkennen, sodass er vorsichtig weiterschlich. Er kam in ein leeres, rundes Gebäude, das nach zwei Seiten offen war und einen herrlichen Blick über das Tal von Imladris bot. Leise trat Iodaìn an eine der Öffnung und konnte in der Ferne gerade eine lange Schlange von Orks in den Bergen verschwinden sehen. Ein Blick zum Himmel verriet ihm, dass es nun Mittag war. Iodaìn grinste in sich hinein. Elta hatte recht gehabt, die Orks waren noch vor Mittag aufgebrochen. Auch wenn ihm dieser Anblick Sicherheit darüber gegeben hatte, dass die Orks Bruchtal verlassen hatte, versuchte er dennoch, so schnell und leise wie möglich vorzugehen. Die immerwährende Dunkelheit schien immer näher zu kommen und Iodaìn vermied offene und gut einsehbare Stellen. Stets fühlte er sich beobachtet und so sah er sich die ganze Zeit nach möglichen Feinden um. Schließlich kam er jedoch in dem kleine Gebäude an, das Celeborn und Thranduil in den letzten Jahren als Krankenlager für die Kranken und Verletzten verwandt hatten. Er sah sich nochmals kurz um und als er sich sicher war, dass die Luft rein war, fing er an, den Raum zu durchsuchen. An einer Stelle war der Boden hohl, eine kleine Mulde diente zur Aufbewahrung von Medikamenten und Kräutern. Hier hatten sie vor ihrer Abreise die Reste von Wethrìnas Arznei deponiert und bereits nach kurzer Zeit hatte Iodaìn diese auch wiedergefunden. Ein kleiner Beutel lag darin und als er ihn und öffnete und hineinsah, trat ein Lächeln auf seine Lippen. Er hatte gefunden, wonach er gesucht hatte. Schnell nahm er den Beutel an sich und verschloss die Mulde wieder, dann begab er sich auf den Weg nach draußen. Kurz bevor er den Raum verließ, hörte er das Klackern von Hufen. Schnell fuhr er zurück und griff zu Pfeil und Bogen, die er auf dem Rücken trug. Das Klackern wurde lauter und Iodaìn ging vorsichtig rückwärts in den Raum hinein. Er sah sich um. Rechts von ihm stand eine niedrige Liege, die ihm ausreichend Deckung bot. Vorsichtig kniete er sich dahinter und wartete darauf, dass etwas geschah. Das Klackern wurde immer lauter, bis er direkt unter ihm stoppte. Mit seinen elbischen Ohren hörte er leise Schritte, die sich auf ihn zubewegten. Nun würde es gleich so weit sein, gleich dürfte die Person, wer oder was auch immer da draußen war, um die Ecke biegen. Iodaìn spannte den Bogen und begann zu zielen. Dann bog die Gestalt um die Ecke.

Der letzte Silmaril II: Botschaft des SchicksalsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt