V.4 - Ja

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Meine Lippen berühren die ihren. Ich schmecke Blut.

Ihre Haut ist spröde und aufgeplatzt. Feine Tropfen dringen aus den Rissen hervor. Es vergehen nur Sekunden, doch in meinem Kopf stapeln sich tausende Gedanken. Margarethe. Liebste Margarethe. Ich denke nur an sie.

Fast schon widerwillig löst sich mein Körper von der Gestalt. Es gelingt mir, ihre Anziehung zu brechen. Doch jetzt, da ich ihr entkommen bin, verlange ich das Fläschchen.

Ich erschrecke, als ich die Gestalt vor mir wahrnehme.

Das seidenweiche, blonde Haar das in geschmeidigen Wellen über ihre Schultern floss, ist ergraut und zottelig. Die feinen Gesichtszüge und die glatte Haut scheinen gealtert. Mit Schrecken fällt mir auf, dass ich keinen liebreizenden Mund geküsst habe, sondern ein Maul mit gelblichen Zähnen. Kalter Schweiß steht mir auf der Stirn.

Ich hätte fliehen sollen. Was habe ich nur getan?

Oh, Margarethe.

Die gierigen Augen der Gestalt vor mir erfassen mich. Ich versinke in ihrem Hunger. Meine Beine gehorchen mir nicht mehr, sie bewegen sich keinen Zentimeter. Die Gestalt rückt näher. Das Maul mündet nicht mehr in einen Körper, sondern in grauen Nebel.

Mein Geist kann die Absurdität und die Lebensbedrohlichkeit der Situation nicht begreifen. Ich gehe unter in der Unwissenheit. Die Augen der Gestalt ziehen mich in ihren Bann.

Ich ertrinke. 

Mein Kopf fühlt sich plötzlich federleicht an, ich scheine mich aufzulösen.

Und dann ist mein Blickfeld vollkommen durch zwei dunkle Löcher ausgefüllt, die auf mich zuschreiten. Mein Gesicht verzerrt sich, mir bleibt die Luft weg.

Weiße Nebelschwaden dringen aus meinem Mund hervor.

Meine Seele wird von endloser Schwärze umgeben und geht darin verloren.

Der Beginn einer neuen Reise.

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Nun, meine Trauer ist groß, Fremder. Dein Ziel ist in weite Ferne gerückt. Du hast diese Welt verlassen und wirst nun eine neue betreten. Ich wünsche dir viel Glück.

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