VI.1 - Ja

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Vorsichtig drehe ich den Kopf, bloß keine ruckartigen Bewegungen. Mein angstvoller Blick wendet sich dem Unheil zu. Ich erschaudere.

Kalte Augen mustern mich still. Hunger ist in ihnen zu erkennen. Aus dem Augenwinkel nehme ich den Rest des Körpers in Augenschein. Es ist ein Mann, der vor mir steht. Seine Haut ist von unzähligen Kratzern und Schrammen gezeichnet. An seinem Bein klafft eine lange Narbe, sie hebt sich wulstig und rot schimmernd von der bleichen Haut ab.

Noch immer stehe ich wie versteinert an Ort und Stelle. Meine Augen folgen seinen ruppigen Bewegungen, mit denen er sich das lange verfilzte Haar aus der Stirn streicht. Der Mond hebt sich über die Baumwipfel empor, bis er direkt über uns steht. Er taucht das Szenario in verheißungsvolles Licht.

Es erklingt ein schauerliches Geheul. Mein Magen überschlägt sich. Vorsichtig wende ich meine Aufmerksamkeit wieder der Gestalt zu. Aus dem Mund des Mannes ragen nun dutzende Zähne, seine Augen werden schmal, der Kopf länglich. Sein Körper verformt sich. Die Gliedmaßen wachsen auf unnatürliche Länge an, aus Fingern und Zehen schießen spitze Krallen. Mir stockt der Atem, das Blut pulsiert wild in meinen Adern, hämmert in meinen Schläfen und hält mich wach.

Die Kreatur reckt sich dem Himmel entgegen, schaut zum Mond auf und begrüßt ihn jaulend. Ich sehe noch, wie sich die fahle Haut zum Zerreißen eng um die Knochen spannt, dann tragen mich meine Beine davon.

Weit kann es nicht mehr sein, ich spüre, dass ich meinem Ziel ganz nah bin.

Oh, Margarethe.

Ich muss es schaffen!

Ich weiß nicht woher ich die Kraft und den Atem nehme, noch schneller und länger zu rennen. Flink und geschickt winde ich mich durch die in der Dunkelheit auftauchenden Baumstämme. Hin und wieder strauchle ich, doch der Gedanke an meine Liebste beflügelt mich.

Ich höre Geheul dicht hinter mir. Ein paar Meilen entfernt antwortet ein weiteres Tier seinem Freund.

Weiter, immer weiter.

Die Nacht ist mein Freund und ich sehe Licht. Erleichterung durchflutet mich. Das Untier ist verschwunden, es scheut das Helle. Doch ich habe mich zu früh gefreut.

Feuer. Ein riesiger Waldbrand.

Die Furcht lässt mich rasant über den bewachsenen Boden eilen, doch ich komme zu spät.

Die Hütte steht bereits in Flammen. Hart schlägt mir die Wahrheit ins Gesicht, zwingt mich in die Knie und umschlingt mich fest.

Sie ist tot.

Oh, Margarethe.

Sie ist tot!

Immer wieder hallt dieser Satz in meinem Kopf wider, prallt gegen die Schädeldecke, wird zurück geschleudert und beginnt seinen Ausbruchsversuch von neuem. Doch er kann meinem Geist nicht entkommen, erneut durchdenke ich die bittere Wahrheit, kann sie immer noch nicht greifen und verliere mich in ihrer endgültigen Unendlichkeit.

Sie ist tot.

Stumm sehe ich zu, wie sich das Holz dem Feuer unterwirft und jämmerlich zugrunde geht. Über meine Wangen rinnen lautlos glasklare Tränen, in denen sich die gefräßigen Flammen spiegeln. Meine Knie küssen den Boden, ich falle in mich zusammen wie ein Kartenhaus, das dem Wind nicht stand hält. Aber mein Wind ist das Feuer vor mir, das mir gefährlich nahe kommt.

Ich fühle mich leer. Ausgelaugt. Gebrochen. Zerfallen. Entzweit.

Ein leuchtend roter Funke frisst sich in meine Hose und hinterlässt ein Loch.

Oh, Margarethe.

Ich kauere mich auf dem Boden zusammen, sehe das Feuer, das mich umringt. Die Luft zum Atmen wird knapp.

Mein letzter Gedanke gilt meiner Frau, dann mache ich mich auf den Weg zu ihr. Eine weitere Reise erwartet mich, ich gebe mir einen Ruck und rolle rücklings über den Boden direkt in die Flammen hinein. Rot- und Orangetöne empfangen mich. Ich schließe die Augen.

Alles wird schwarz.

Und als ich die Augen wieder öffne, umgibt mich immer noch Schwärze. Doch ich rieche keinen Rauch mehr, spüre keine Hitze. Gierig atme ich die stickige Luft ein, huste und erschrecke mich fürchterlich als eine zarte Hand nach meinem Arm greift.

Das Licht wird angeknipst, Margarethe mustert mich sorgenvoll. Sanft streichelt sie mir über die Wange und durch das verstrubbelte Haare. Müde kuschelt sie sich an mich und ich weiß, ich muss ihr nicht von dem Wald, den Kreaturen, der Angst und ihrem Tod erzählen. Margarethe ist bei mir, sie liegt in meinen Armen und schläft bereits wieder friedlich. Ein Weilchen betrachte ich ihr schönes Gesicht, gebe ihr dann einen kleinen Kuss auf die Stirn und schließe die Augen.

Oh, Margarethe.

Was für ein schrecklicher Traum.

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MondglanzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt