Sieben Jahre später...
V I N C E N T
Verwirrt von dem großen Radau, der auf dem Schulhof stattfindet, sehe ich mich um. Auf der gegenüberliegenden Seite hat sich eine große Menge an Schülern zusammen geballt und ruft laut irgendwelche Parolen, die für mich überhaupt keinen Sinn ergeben.
Das muss Mal wieder eine Prügelei sein, denn solche gibt es hier häufiger als mir eigentlich lieb ist.
Ich verstehe einfach nicht, was man an soetwas toll finden kann, immerhin ist man immer der Gearschte, weil man so oder so irgendwie eine Verletzung davonträgt - doch ich glaube, da bin ich wohl der einzige männliche Vertreter unserer Rasse im Umkreis von etwa hundert Meilen, der so davon denkt.
»Hey, Vinnie! Was ist denn da schon wieder los?!« ruft mir plötzlich eine bekannte Stimme zu, bei der sich meine Nackenhaare aufstellen - aber nicht durch Angst oder Ekel. Nein, ganz im Gegenteil.
Ich drehe mich mit einem wie wild klopfendem Herzen zu dem Jungen um, der mir eben gerade zugerufen hat. Und wie jedes Mal, wenn ich ihn sehe, muss ich sofort lächeln - wie ein völlig Verrückter, nur so nebenbei bemerkt. Ich weiß nicht, wann sich meine Gefühle für ihn verändert haben, doch sie sind schon lange nicht mehr freundschaftlicher Natur. Nein, ich Vincent Walter, muss mich natürlich ausgerechnet in meinen ältesten und besten Freund verknallen.
Zuerst war ich vollkommen von den Gefühlen, die ich ihm gegenüber hege, verwirrt. Dann wurde es immer mehr Klarheit, bis ich es schlussendlich akzeptierte, dass ich scheinbar schwul bin. Doch ich wollte versuchen meinem besten Freund gegenüber wieder normal zu empfinden, doch dies scheiterte - und ich schwor mir, dass ich es ihm niemals sagen werde, um unsere Freundschaft nicht zu gefährden, denn dann würde ich höchstwahrscheinlich daran zerbrechen.
Und dann steht er auch schon vor mir - Henry Oliver Jones, der Schwarm aller Mädchen unserer Schule und auch offensichtlicherweise der meine.
Er hat wie immer seine braunen Haare ordentlich gestylt, weshalb sie ihm nun wuschelig vom Kopf abstehen. Außerdem hat er sich eine seiner besonders engen Jeans angezogen, weshalb man deutlich seine Beinmuskulatur erkennen kann. Er spielt seit ein paar Jahren Fußball und ich erscheine immer zu seinen Spielen, weil er mich jedes Mal solange nervt, bis ich schließlich aufgebe, weil er mich mit diesem einzigartigen Hundeblick ansieht, dass ich einfach nicht mehr ablehnen kann. Was mich allerdings am meisten freut zu sehen, ist, dass er den Pullover trägt, den ich ihm letztes Jahr zu seinem Geburtstag geschenkt habe.
Im Gegensatz zu ihm falle ich eher durch die ungewöhnliche Kombination aus Latzhose und kariertem Hemd auf, statt durch überdurchschnittlich gutes Aussehen und überragende Größe. Ich lebe aber auch immerhin auf einer Farm, da kann man sich nicht mal eben schnell umziehen, wenn man irgendwo als Aushilfskraft benötigt wird.
Aber irgendwie ist es schon verrückt, wie sehr wir uns in den letzten Jahren verändert haben.
Ich erinnere mich noch als wäre es erst gestern gewesen, als er plötzlich auf der Veranda meines Großvaters stand und sich mit mir unterhalten hat. Er war der erste hier in Toronto, der sich für mich interessiert hat und der sich mit mir anfreundete - und ich bin ihm bis heute dankbar.
Wenn ich allerdings an die Umstände denke, die mich in diese Gegend verschlagen haben, da schmerzt mir mein Herz.
Ich war gerade einmal acht Jahre alt und schon eine Vollwaise gewesen. Noch immer frage ich mich, warum ausgerechnet Mom und Dad diejenigen sein mussten, die von diesem Arsch von Lorry-Fahrer erwischt werden mussten. Erst vor einem Jahr hat sich herausgestellt, dass er dazu auch noch alkoholisiert war, obwohl er das gegenteilige ausgesagt hat - natürlich hat er das, sein Führerschein stand ja auch auf dem Spiel. Sechs Jahre nachdem es passiert ist, fand man es erst heraus! Und seitdem frage ich mich, also ein verdammtes Jahr schon, wie der Justiz solche Fehler unterlaufen konnten, denn immerhin war dieser Mann freigesprochen wurden und nun war das Verfahren wieder aufgenommen wurden, um zu überprüfen, ob noch mehr Verfahrensfehler zum Vorschein kommen.
Das verrückte an der ganzen Sache ist nur, dass ich höchstwahrscheinlich Henry nie kennengelernt hätte, wären meine Eltern nicht gestorben. Also hat es auch einen positiven Aspekt mit sich gebracht, allerdings überwiegt das negative deutlich.
»Ich hab' keine Ahnung«, antworte ich Henry, welcher sich vor mich gestellt hat und mich lächelnd ansieht.
»Meinst du wir sollten uns das mal anschauen?«, fragt er mich deshalb und sieht mich erwartungsvoll an.
Ich überlege, weil ich mir nicht sicher bin, ob ich sehen möchte, wie sich zwei halbgare Typen in unserem Alter verprügeln. Anderseits bin ich auch schrecklich neugierig, wer es jetzt schon wieder ist, der sich da prügeln muss.
Meine Überlegerei scheint Henry allerdings zu lange zu dauern, denn er schnappt sich schlussendlich mein Handgelenk und zieht mich hinter sich her zu der großen Ansammlung von unseren Mitschülern.
Schnell schlängelt er sich durch die Reihen, bis wir fast ganz vorne stehen - die meisten haben ihm nämlich sofort Platz gemacht, als sie ihn erkannt haben. Tja, Henry ist halt beliebt, im Gegensatz zu mir. Die meisten dulden mich nur, weil ich mit Henry befreundet bin, ansonsten wäre ich bestimmt, wie einige andere Bemitleidenswerte, einer der Boxsäcke der älteren Schüler. Keine Ahnung, ob dies Henry auch bewusst ist, aber jedenfalls lässt er sich das nie anmerken.
Der Anblick, der sich mir bietet, als wir endlich einen Blick auf die Szene erhaschen können, erschreckt mich aber dann doch mehr als ich eigentlich erwartet habe. Immerhin ist es der kleine Billy, der auf dem Boden liegt und einige harte Schläge einstecken muss. Sein sonst immer fröhlich lächelndes Gesicht, ist voller Hass - aber auch voller Blut, was mir übel werden lässt. Über ihm kauert niemand anderes als der Schulschläger Brad, welcher verrückt vor sich hin grinst. Er ist, glaube ich zumindest, zwei Klassenstufen über uns und gefürchtet für seine Schläge, die nie ein Auge trocken lassen. Das war aber auch kein Wunder, der Kerl war immerhin ein blondhaariger Riese und dazu noch einer mit Muskeln.
»Ach du scheiße«, flucht Henry neben mir total schockiert. »Wieso hilft ihm denn niemand?!«
Mein Blick zuckt zwischen Billy und Henry hin und her. Vielleicht ist das ja meine Chance Henry zu beeindrucken. Ich weiß, dass er mein bester Freund ist, doch ich könnte es doch wenigstens mal versuchen. Außerdem tut mir Billy leid, der dort so hilflos liegt und von den meisten hier anwesenden verspottet wird. Ich weiß auch, dass dies wahrscheinlich eher einem Selbstmordkommando ähneln wird, doch ich kann erstens Billy nicht weiter so betrachten, ohne dass ich Schuldgefühle bekomme, ihm nicht zu helfen, obwohl ich es versuchen kann und zweitens will ich Henry beeindrucken, damit er nicht immer denkt, ich wäre jemand, den man beschützen muss.
Und so tue ich etwas, was ich im Nachhinein bestimmt bereuen werde - da bin ich mir ganz sicher -, denn ich stürze mich ohne weitere darüber nachzudenken auf Brad und katapultiere ihn so von Billy, welcher erleichtert ausatmet und dankbar zu mir hoch sieht.
Ich helfe ihm schnell hoch und scheuche ihn sofort in Richtung des Krankenzimmers - immerhin sieht er echt übel aus. Ich will ihm gerade folgen und von hier weg schaffen, als man mich am Kragen packt und zurück reißt.
Durch den kräftigen Ruck wird kurzzeitig meine Luftzufuhr abgeklemmt, weshalb ich aufkeuche und innerlich fluche - ich habe ja gewusst, dass das übel enden würde. Und dann sehe ich auch schon in Brads mehr als wütendes Gesicht.
Oh scheiße!
»Was sollte das werden, kleiner Pisser?«, fragt er mich gefährlich ruhig, während ich ihn einfach nur emotionslos ansehe.
Sobald er meine Angst bemerkt, wird er mich genauso zurichten, wie Billy - zumindest glaube ich das. Immerhin war es bei Tieren so, dass sie einen angreifen, wenn man ihnen seine Angst zeigt und dann ruckartige Bewegungen macht. Das endet genauso schlimm, wie wenn man sich mit Brad anlegt, schießt es mir durch den Kopf.
»Du sollst mir antworten!«, brüllt er mich an, da ich ihm nicht antworte und zucke kurz zusammen, weil ich mit dieser Lautstärke nicht gerechnet habe. Doch antworten tue ich ihm immer noch nicht. Soll er sich doch seinen Teil dazu denken. Weshalb schubst man wohl einen Schläger von einem hilflosen zwölfjährigen, der zufälligerweise auch noch in der Nachbarschaft von einem wohnt?
»Du hast es so gewollt«, knurrt er mir plötzlich leise zu und dann sehe ich nur noch, wie seine Faust auf mein Gesicht zu fliegt und direkt auf meinem Auge und dann noch einmal auf meiner Nase landet.
Durch die versammelte Menge geht ein Raunen und Brad ist gerade im begriff mich ein weiteres Mal zu schlagen, als unser Direx plötzlich neben uns steht.
Er sieht wie immer streng drein, hat die wenigen Haare, die er noch auf seinem Kopf besitzt, über seine Glatze gekämmt und trägt als einziger Lehrer hier einen Anzug - was bei seinem Bierbauch eher unglücklich aussah.
»Was haben wir bei unserem letzten Gespräch miteinander besprochen, Bradley?«, fragt der Direx in einem mehr als strengen Ton, bei dem es mich fröstelt.
»Ist mir doch egal!«, antwortet Brad und lässt mich zu Boden fallen.
Henry steht plötzlich vor mir und hilft mir beim Aufstehen, bevor er auch schon sein wütend-besorgtes Gesicht aufsetzt.
»Was zum Teufel, hast du dir bloß dabei gedacht?! Er hätte sich krankenhausreif schlagen können, Vinnie!«, sagt er aufgebracht und umfasst mein Gesicht mit seinen großen Händen, um es sich besser begucken zu können. »Wenn ich mir dein Gesicht aber so anschaue, dann hat er das bereits getan.«
Verunsichert sehe ich Henry an, welcher bloß tief seufzt und mich dann in seine Arme zieht.
»Du machst auch immer Sachen, du Idiot!«, flüstert er, während er mich näher an sich zieht und fast erstickt, doch das ist mir im Moment egal.
Ich erwidere seine Umarmung ohne groß nachzudenken und hoffe inständig, dass er mein wie wild schlagendes Herz nicht spürt - oder zumindest denkt, dass es von dem Adrenalin herrührt, das noch in meinen Blutlaufbahnen umher schwimmt.
»Komm', wir sollten der Krankenschwester einen Besuch abstatten«, sagt Henry schließlich, als er sich von mir löst.
Ich vermisse sofort die wohlige Wärme, die mich bis eben noch umgeben hat und seufze leise.
Zum wiederholten Male an diesem Tag zieht mich Henry einfach hinter sich her und bugsiert mich auf die freie Liege neben Billy, als er mit mir im Schlepptau am Krankenzimmer ankommt.
»Wehe du versuchst abzuhauen, oder zu behaupten, dass es dir bestens geht, dann verpass' ich dir nämlich eine Schelle und die wirst du so schnell nicht vergessen, das verspreche ich dir«, grummelt Henry, welcher sich für meinen Geschmack einfach viel zu viele Sorgen um mich macht.
»Beruhige dich, Henry«, lächle ich leicht, um ihn milde zu stimmen. »Wie du siehst, bin ich weder tot, noch ohnmächtig, also ist es schon Mal nicht allzu schlimm.«
»Nicht allzu schlimm, dass ich nicht lache.« Weiter leise vor sich hin grummelnd setzt er sich auf den Stuhl, der neben der Liege steht und verschränkt sauer seine Arme vor der Brust. »Manchmal würde ich gerne wissen, was da oben bei dir für diese hirnrissigen Ideen verantwortlich ist.«
Ich denke Mal, das sind die Hormone, die wegen dir vollkommen durchdrehen, denke ich im Stillen und muss über diesen Gedanken Schmunzeln.
»Warum schmunzelst du bitteschön jetzt auch noch?!«, fragt mich Henry immer noch mehr als angepisst.
»Das bleibt mein Geheimnis, mein Lieber«, lache ich und zwinkere ihm zu, was ihn ebenfalls zum Schmunzeln bringt.
»Vincent?«, ertönt es plötzlich zögerlich von der anderen Liege.
»Ja, was ist denn Billy?«, frage ich nach und schaue ihn aufmerksam an.
»Ich wollte mich nur nochmal bei dir bedanken«, sagt er schüchtern und sieht dann leicht lächelnd zu mir. »Ohne dich sähe ich bestimmt noch schlimmer aus.«
Ich lächle ihn sanft an und strecke meine Hand nach ihm aus. Er ergreift sie sofort und schüttelt sie so, wie er auch schon immer getan hat, als er noch kleiner war.
»Das war doch selbstverständlich, da musst du dich doch nicht bedanken«, sage ich bestimmt. »Immerhin hält die Nachbarschaft doch zusammen.«
Nun wieder richtig lächelnd nickt mir Billy zu und lässt meine Hand los, wie ich die seine.
Wenigsten scheine ich heute tatsächlich jemanden beeindruckt zu haben, zwar nicht den, den ich beeindrucken wollte, aber es ist schön, dass Billy sich über meine, mehr oder weniger gelungene, Rettung seiner Wenigkeit freut.
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Während ich schlief
Teen FictionAls Vincents Eltern bei einem Unfall verunglücken und er gezwungenermaßen zu seinem Großvater nach Toronto auf dessen Farm ziehen muss, scheint für ihn alles hoffnungs- und trostlos. Er fühlt sich alleine gelassen und verloren auf der großen weiten...