V I N C E N T
Vorsichtig streiche ich durch Henrys Haar, damit es sich wieder ein wenig legt. Auch wenn er sich eigentlich gar nicht bewegt sieht es immer vollkommen verstrubbelt aus.
»Ich glaube, du vermisst ihn mehr, als er dich je vermissen könnte«, lächelt Trevor mir zu.
Ich nickte leicht, während ich wieder über seine Wange streiche. Seit etwa zehn Minuten laufen ihm immer Mal wieder Tränen über eben diese, was meine Hoffnung wieder anschwellen lässt.
»Trotzdem wünschte ich, dass er nie in diesen Banküberfall geraten wäre«, hauche ich, während in mir wieder die Frage aufkommt, warum man so brutal vorgegangen ist.
Um ganz ehrlich zu sein kommt mir alles wie ein Racheakt Henry gegenüber vor. Ich kann mir zwar nicht wirklich niemanden vorstellen, der einen so tiefen Groll Henry gegenüber verspürt, aber es will auch einfach nicht ins Bild passen, dass Henry diesen völlig verrückten angeblich kennen soll. Ich kann einfach keinerlei Sinn aus dieser ganzen Situation finden.
»Das wünschen wir uns alle«, sagt Trevor und legt mir beruhigend eine Hand auf die Schulter.
Ich nicke wieder einmal einfach nur und betrachte Henrys blasses Gesicht.
Normalerweise könnte man seine leichten Sommersprossen gar nicht erkennen, weil er durchgehend eine gesunde Bräune auf der Haut präsentieren kann, aber nun sieht man sie deutlich. Schmunzelnd streiche ich über seinen Nasenrücken und seine Wangenknochen.
Bilder einer viel jüngeren Version von Henry zeigen sich mir vor meinem inneren Auge. Er hat seine Sommersprossen noch nie leiden können und hat sich immer über sie beschwert, aber ich habe sie schon immer gemocht. Sie sind soetwas wie der klitzekleine Makel, den jeder von uns braucht. Meiner Meinung nach stehen sie Henry allerdings viel besser, als jedem anderen und unterstreichen seine Schönheit deshalb umso mehr.
Aber er ist noch nie nur äußerlich sondern auch innerlich wunderschön gewesen und wird dies auch für immer in meinen Augen bleiben. Egal ob er wieder aufwacht oder nicht.
Eine weitere Träne rinnt seine Wange hinab. Vorsichtig fange ich sie mit meinem Daumen ab und wasche sie so fort.
»Bitte komm' bald wieder zu mir zurück«, flüstere ich ihm ins Ohr, bevor ich mich aufrichte. »Ich fürchte, ich muss schon wieder los. Grandpa ist sicherlich wieder auf der Farm unterwegs, obwohl ihm der Doc Ruhe verordnet hat. Irgendjemand muss ihn Gangregeln, um nicht zu sagen, dass ich mich dafür verantwortlich fühle.«
Mein Blick liegt auf Trevor, welcher sie zuvor leise mit seinem Onkel unterhalten hat.
Henry hat mir gegenüber nur vielleicht fünf Mal seinen Onkel Ian erwähnt. Ich habe keine Ahnung, wie ihr Verhältnis zueinander ist oder je war, Henry hat wie gesagt nicht sehr oft wie auch viel über ihn gesprochen. »Ist gut, aber bitte überarbeite dich nicht und schau' regelmäßig vorbei«, lächelt Trevor, als er zu mir kommt und mich kurz umarmt. »Es tut Henry gut, wenn du bei ihm bist - das haben wir alle bemerkt.«
Ich nickte und sehe nocheinmal zu dem rotblonden Mann mit den fast schwarzen Augen, der mir ein unsicheres Lächeln zuwirft. Ich lächle ihm freundlich zu und reiche ihm zum Abschied die Hand, bevor ich mich noch einmal Henry zuwende und ihm einen Kuss auf die Stirn hauche.
»Bis bald hoffentlich und ich hab' dich lieb, vergiss' das ja nicht«, flüstere ich ihm zu.
Dann mache ich mich auf den Weg zurück zur Farm, um sicher zu stellen, dass Grandpa sich nicht schon wieder sonst wo rum treibt.»Alter, du siehst völlig fertig aus«, stellt Alex am nächsten Morgen sofort fest, als ich bei ihm und Anna ankomme.
»Dir auch einen schönen guten Morgen!«, brumme ich etwas schlecht gelaunt.
Billy neben mir sieht mich noch immer genauso misstrauisch an, wie auch schon die gesamte Busfahrt hierher. Manchmal frage ich mich, ob er sich fragt, ob ich wohl ein absonderliches Alien bin. Aber dann schießt mir wieder in den Kopf, dass Billy nun einmal Billy ist.
»Hey, sei doch nicht gleich so unsensibel«, meckert Anna und stemmt ihre Hände in ihre Hüften. »Kein Wunder, dass dir nicht alle Kerle zu Füßen liegen bei dem Einfühlungsvermögen, was du da zur Schau trägst.«
Den letzten Teil hat Anna nur so laut gesagt, dass auch nur wir vier etwas davon mitbekommen können, was Alex allerdings nicht daran hindert so rot, wie eine Tomate zu werden.
»Hey, ruhig Blut, Anna«, lache ich, während ich sie in eine Umarmung ziehe, um ihr zu viel vorhandenes Temperament zu beruhigen. Ich frage mich nun schon seit ich sie richtig kenne, wie in einer einzigen Person so viel Temperament stecken kann. Kommt wahrscheinlich aber davon, dass sie irische Vorfahren hat. Zumindest meine ich Mal gehört zu haben, dass Iren ein relativ belebtes Temperament haben sollen.
»Was denn? Ist doch so«, grummelt sie, als sie meine Umarmung erwidert. »Ich kann doch nicht einfach dabei zuhören, wie dieser Idiot da hinter mir, meinem besten Freund traurig stimmt.«
Erstaunt sehe ich Anna in die Augen, welche mich bloß anlächelt. Auch mir schleicht sich wenig später ein Lächeln auf's Gesicht.
»Ahja, bin ich also dein bester Freund?«, frage ich sie neckend.
»Nein, natürlich nicht, weißt du! Das habe ich bloß gesagt, um dich zu verletzen«, steigt sich gleich grinsend mit ins Boot.
Ich lasse sie los und greife mir theatralisch ans Herz, was alle umstehenden zum Lachen bringt. Ich kann auch nicht wirklich lange meine ernste Miene aufrecht erhalten und muss ebenso lachen.
»Schön zu wissen, dass ihr euch so amüsieren könnt«, ertönt plötzlich eine Stimme hinter uns, die mich erstarren lässt. »Zumindest wenn man weiß, was Henry wiederfahren ist.«
Ich schließe meine Augen und balle meine Hände zu Fäusten.
Brad.
Eigentlich habe ich gehofft, dass ich mehr Zeit habe, um mich darauf vorzubereiten, mich ihm endlich entgegen zu stellen. Scheinbar ist die Zeit aber gegen mich.
»Wag' es ja nicht über ihn zu reden, als wäre er dein Freund, Brad«, zische ich ihm zu, während ich mich zu ihm umdrehe.
Wie immer hat er seine Gorillas dabei, die mich neutral ansehen. Brad allerdings grinst dieses Grinsen, was mir einen eiskalten, unwohlen Schauer über den Rücken laufen lässt. Das habe ich definitiv nicht vermisst.
»Und was willst du dagegen machen, du erbärmliches kleines Würstchen?«, spuckt er mir entgegen und kommt auf mich zu.
»Das wirst du dann schon früh genug erleben!«
Ich bleibe unbeweglich stehen und sehe ihm stur in die Augen. Auch wenn ich immernoch Angst vor ihm habe, werde ich nicht mehr vor ihm zurückweichen. Immerhin habe ich in den letzten Wochen einige Nahkampf-Tricks von Alex gelernt. Ich weiß also, wie man zuschlägt - zumindest theoretisch.
»Ich glaube kaum, dass du eine Chance gegen mich haben würdest, du erbärmlicher Waschlappen.«
Ich gehe einen Schritt auf ihn zu und sehe ihn weiterhin stur in die Augen.
Verwirrt blinzele ich. Ich habe ihm schon so oft in die Augen gesehen, aber sie waren zuvor noch nie braun. Da bin ich mir ganz sicher.
»Oh, verlässt dich etwa der Mut«, reißt mich Brad aus meinen Gedanken.
Verwirrt über meine Gedanken schüttelte ich meinen Kopf und setze wieder die emotionslose Maske auf, die ich so oft vor dem Spiegel geübt habe.
»Nein, aber ich frage mich, weshalb du deine Augenfarbe versteckst«, sage ich ihm direkt ins Gesicht. »Hast du etwa was zu verbergen, Bradley?«
Seine Fassade fällt für einen kurzen Moment, ehe er auch schon zum Schlag ausholt.
Diesmal trifft er nur meine Lippe, allerdings greift er, nachdem ich auf dem Boden aufgekommen bin, sofort nach meinem Kragen und hievt mich hoch. Er sieht mir mit vollkommenem Wahnsinn in die Augen, weshalb ich zusammenzucke. Ich fürchte Billy hat Recht - Brad scheint mehr als nur ein Problem zu haben.
»Weißt du was, Winzling? Ich wünschte, dein Beschützer wäre bereits beim Überfall abgenippelt!«
Ich ziehe scharf die Luft ein, als plötzlich ein Schalter in mir umspringt. Meine Wut kocht hoch und ich schlage Brad einfach mitten auf seine Nase.
Es ist ein Reflex, der noch nie in meinem Leben eingesetzt hat, aber Brad hat Henry gerade den Tod gewünscht. Das kann und werde ich niemals tolerieren.
Brads Griff um meinen Kragen lockert sich von einem Moment auf den anderen, doch ich schaffe es gerade noch so auf meinen Füßen zu landen. Es ist das erste Mal, dass ich Brad am Boden sehe. Irgendwie bin ich stolz darauf, der erste zu sein, der ihm Mal die Leviten gelesen hat. Anderseits erschrecke ich mich vor mir selber. Normalerweise bin ich immerhin nicht so gewalttätig.
Langsam gehe ich auf Brad zu und beuge mich dann zu ihm herunter. Er sieht mich aus erschrockenen Augen an, während er sich die blutende Nase hält.
»Ich an deiner Stelle würde dafür beten, dass mein Beschützer niemals von dem ganzen hier erfährt, wenn er aufwacht«, zische ich ihm zu, bevor ich auf den Fersen kehrt mache und zu meinen Freunden gehe, die von der schaulustigen Menge nach hinten gedrängt wurden.
»Vinnie!«, ruft mir Billy erschrocken entgegen, als ich vor ihnen stehe.
Alle sehen mich erstaunt als auch stolz an. Ich glaube, sie können es nicht glauben, dass ich mich tatsächlich gewehrt habe - das kann ich selber allerdings auch nicht wirklich.
»Irgendwie fühlt es sich komisch an, derjenige zu sein, der noch aufrecht steht«, sage ich zu den dreien, bevor sich ein schräges grinsen auf mein Gesicht stiehlt. »Aber irgendwie tut es auch gut zu wissen, dass Brad sich vor mir erschrocken hat.«
Anna kommt kopfschüttelnd auf mich zu und untersucht erst einmal meine aufgeschlagene Lippe, bevor sie mich in eine feste Umarmung zieht.
»Gott, hab' ich mich erschrocken, als du Brad plötzlich die Faust in seine Visage gerammt hast!«, murrt sie mich an, lacht dann aber fröhlich. »Aber ich bin stolz, dass du dich nicht so leicht unterkriegen lassen hast.«
»Das war auf jeden Fall einer der besten Nasenbrüche, die ich je gesehen habe!«, ruft Alex lachend.
Er sieht immer noch auf die Szene hinter uns. Wahrscheinlich helfen Brads Schläger ihm gerade auf, damit er ins Krankenzimmer wanken kann. Zumindest hört es sich so an. Brad ist immerhin nicht der leichteste mit seinem massigen Körperbau und den Muskeln, die vollkommen übertrieben an ihm aussehen.
Ich lächle Alex leicht zu und nicke dankbar. Er macht bloß eine wegwerfende Geste und sieht sich zusammen mit Billy das sich bietende Spektakel an.
Als mir allerdings plötzlich wieder in den Sinn kommt, was Brad Henry gegenüber geäußert hat und dass er Kontaktlinsen trägt, die in einer anderen Augenfarbe erstrahlen, verblasst mein Lächeln schnell wieder.
Kann es womöglich doch sein, dass Brad der Anführer dieser Bande ist und sich so vor dem Gesetz verstecken will? Ist er wirklich so verrückt, dass er einen Banküberfall begeht und dabei sogar mehrere Menschenleben aufs Spiel setzt nur um an Geld zu kommen? Aber er schwimmt doch durch seine Eltern förmlich im Geld. Warum sollte er also soetwas verrücktes machen, wenn er sowieso schon eine ganze Menge Geld als das seine bezeichnen kann?
Das ergibt einfach alles keinen Sinn... .
Mein nachdenklicher Blick legt sich auf Brad, welcher von seinen Schlägern gestützt wird und mir einen bitterbösen Blick schenkt.
Aber falls er es doch gewesen sein sollte, dann habe ich nun ein Problem. Immerhin scheint er nicht davor zurück zu schrecken, wenn er über Leichen gehen muss, um seinen Willen zu bekommen... .____________
Hallöchen meine Lieben!
Vinnie kommt langsam dahinter, was Brad mit dem Überfall zu tun hat, ob er wohl weiter nach forscht - was meint ihr?
Dann sehen wir uns nächste Woche wieder!
Eure
theuniverseinus
DU LIEST GERADE
Während ich schlief
Teen FictionAls Vincents Eltern bei einem Unfall verunglücken und er gezwungenermaßen zu seinem Großvater nach Toronto auf dessen Farm ziehen muss, scheint für ihn alles hoffnungs- und trostlos. Er fühlt sich alleine gelassen und verloren auf der großen weiten...