Einige Stunden zuvor bei
H E N R Y
Die gesamte Fahrt nach Hause muss ich wie ein völlig verrückter grinsen. Ich freue mich schon darauf heute Abend wieder bei Vincent zu sein, mit ihm ist immer alles so unkompliziert, auch wenn meine Gefühle für ihn irgendwie alles kompliziert machen.
Sollte ich ihm heute Abend sagen, was ich für ihn empfinde und ihn fragen, was er für mich empfindet?
Ich weiß es nicht.
Irgendwie habe ich Angst davor es ihm zu sagen, weil ich die Befürchtung habe, dass er nicht so für mich empfindet, wie ich für ihn. Andererseits was wäre, wenn er die gleichen Gefühle mir gegenüber hegt? Würden wir dann womöglich ein Paar werden und glücklich bis an unser Lebensende miteinander sein? Irgendwie gefällt mir diese Vorstellung sehr gut.
Seufzend sehe ich das Haus an, in dem ich mit meiner Familie wohne. Ein ungutes Gefühl beschleicht mich, als ich meine Lieben bereits versammelt vor dem Haus stehen sehe. Als ich geparkt habe steige ich aus und gehe zu ihnen herüber.
»Das wird aber auch endlich mal Zeit, dass du hier aufkreuzst!«, schimpft Christa sofort los und greift nach meinem Handgelenk.
Ich sehe verwirrt zu meinem Vater und meinen Geschwistern, die nur mit den Schultern zucken und uns dann folgen. Christa zieht mich unterdessen hinter sich her ins Wohnzimmer, wo sie mich auch sofort auf die Eck-Couch verfrachtet.
»Warum kommst du erst so spät hier an? Du hattest schon vor einer halben Stunde Schulschluss, mein Lieber!«
Ich sehe verwirrt zu der blonden Frau auf, die gut einen ganzen Kopf kleiner als ich ist, dafür aber eine umso bedrohlichere Ausstrahlung hat.
»Ich habe dir doch heute morgen bescheid gesagt, dass es etwas später werden könnte, weil ich Vinnie noch erst nach Hause bringen wollte«, sage ich und runzle meine Stirn. Seit wann ist sie denn so vergesslich, das passt gar nicht zu ihr.
»Oh, ehrlich?«, fragt sie und sieht entschuldigend zu mir, als sich der Rest der Familie um mich herum verteilt.
Trevor setzt sich ohne darüber nachzudenken neben mich und legt seinen Arm auf den Teil der Lehne hinter mir ab. Er ist zwar bloß ein Jahr älter, als ich hat aber einen verdammt großen Beschützerinstinkt. Außerdem könnte man meinen, dass wir Zwillinge sind, da wir ziemlich gleiche Gesichtszüge und Wesensmerkmale haben. Das einzige, was uns unterscheidet ist unsere Augenfarbe - beziehungsweise unsere Augenfarben. Trevor ist nämlich einer der wenigen Menschen auf unserem schönen Planeten, der zwei Augenfarben besitzt. Sein rechtes ist genau wie meine braun, das linke stellt aber ein ziemliches Kontrastprogramm dar, da es hellblau leuchtet.
Auf meiner anderen Seite lässt sich meine kleine Schwester Linda nieder und lehnt sich gleich an mich. Sie ist die einzige von uns Vieren, die blonde Haare hat. Sie ist allgemein anders als wir und das nicht nur, weil sie das einzige Mädchen in unseren Reihen ist. Nein, sondern auch weil sie fast gänzlich taub ist. Sie hat relativ schnell gelernt Lippen zu lesen und verwendet kaum bis gar nicht die Gebärdensprache. Außerdem haben wir mit ihr geübt, wie sie normal laut spricht, damit sie sich auch mit uns über normale Wortlaute verständigen kann. Ich muss wieder anfangen zu lächeln, als mir Bilder von Vincent und ihr durch den Kopf schießen, wie sie sich nur mittels ihrer Hände verständigen. Noch ein Grund mehr warum mir Vincent so wichtig ist. Als er erfahren hat, dass Linda fast gänzlich taub ist, hat er sich sofort danach erkundigt, ob ich ihm nicht die Gebärdensprache beibringen könnte. Vincent hat nicht einmal eine Woche gebraucht um sie perfekt zu beherrschen - auch wenn er es nicht wahrhaben will, ist er meiner Meinung nach ein Hochintelligenter junger Mann.
Als letztes gesellt sich unser Halbbruder Oscar zu uns, der sich zwischen mich und Linda drängelt.
»Hey, immer ruhig mit den jungen Pferden, junger Mann«, lache ich und rücke etwas näher an Trevor.
»'Tschuldige, Henry«, grinst er mich an und sieht dann zu seiner Mom.
Er sieht ihr kaum ähnlich, was irgendwie schon verrückt ist. Man könnte meinen, dass er noch aus Dads erster Ehe stammt, der zumindest wir drei älteren entstammen, aber dem ist nicht so. Er ist tatsächlich der Sohn von Christa und Dad, auch wenn sich Dads Gene deutlich durchgesetzt haben. Immerhin hat er braune Haare und braune Augen, nur die Gesichtszüge ähneln seiner Mom.
»Warum sind wir eigentlich hier versammelt, wenn ich fragen darf?«, meldet sich Dad zu Wort, während er sich mit verschränkten Armen neben die Couch stellt und fragend zu seiner Frau sieht. »Hat irgendwer wieder teures Glas zerbrochen?«
»Nein, nein«, sagt Christa lachend und sieht dann unsicher in die Runde. »Ich hab' Neuigkeiten, die uns alle betreffen.«
»Dann raus mit der Sprache!«, sagt Linda und sieht grinsend zu Christa, die zustimmend nickt und dann noch einmal tief ein- und ausatmet.
»Wir bekommen Familienzuwachs«, sagt sie schnell und sieht dann wieder unsicher in die Runde.
»Bedeutet das etwa...?«, setzt Trevor an, wird aber durch das Nicken unserer Stiefmom unterbrochen.
»Ich bin Schwanger.«
Erst herrscht Stille im Raum und jeder sieht jeden an, dann bricht die Hölle los, weil wir alle aufjubeln und Christa stürmisch in eine Gruppen Umarmung ziehen.
Lachend versucht sie uns vier ebenfalls zu umarmen, bevor wir uns von ihr lösen, um Dad die Gelegenheit zu geben, dass er seine Frau in eine Umarmung ziehen kann.
Er flüstert ihr irgendetwas ins Ohr, was sie lachen und rot werden lässt, bevor er ginsend zu uns sieht.
Erst jetzt fällt mir auf, dass Dad seinen Drei-Tage-Bart weiter wachsen lässt. Warum fällt mir das erst jetzt auf. Normalerweise hätte mir das sofort auffallen müssen, weil man kaum noch seine breite Kieferpartie sehen kann. Naja, ist ja auch egal.
Lächelnd lasse ich mich wieder auf die Couch fallen und beobachte glücklich meine Familie.
Vielleicht sollte ich sie ja fragen, was ich heute abend machen soll... . Ja, das ist eine gute Idee. Immerhin kann ich ihnen vertrauen und bis jetzt konnten sie mir eigentlich immer einen guten Rat geben.
»Ähm, Leute«, sage ich etwas lauter, damit mich alle hören und sehe entschuldigend in die Gesichter meiner Familie. »Wenn wir schon Mal hier versammelt sind, bräuchte einen Rat von Euch.«
Ich kratze mir verlegen den Nacken und sehe mit roten Wangen wieder zu ihnen auf.
»Was ist denn los, mein Junge?«, fragt Dad mich und setzt sich zu mir.
Ich seufze und sehe auf meine Hände. »Nur einmal angenommen, ich würde jemanden meine Liebe gestehen wollen, den ich schon jahrelang kenne - wie mache ich das am geschicktesten?«
Lachend schlägt mein Dad mir auf die Schulter, während ich ihn nur verwirrt ansehen kann. Habe ich irgendetwas verpasst?
»Ich habe schon lange auf diese Frage gewartet, um ehrlich zu sein«, lacht er und sieht mich dann ernst an. »Sag' es ihm einfach frei heraus, Henry. Vincent ist ein guter Junge, der dich nicht einfach von sich stoßen wird.«
Überrascht schaue ich zu Dad auf. »Woher...?«, fange ich an, werde aber von Trevor unterbrochen, der sich ebenfalls zu uns gesellt.
»Jeder Blinde könnte sehen, wie gern ihr euch habt, mein kleines Brüderchen«, sagt er und zieht mich in eine brüderliche Umarmung. »Wir haben schon lange damit gerechnet, dass ihr beide irgendwann in naher Zukunft zusammen kommt. Und ganz ehrlich, einen besseren Fang, als Vinnie kannst du gar nicht machen, mein Lieber. Also versau' es dir ja nicht mit ihm, hast du mich verstanden?«
Immer noch leicht überrascht sehe ich meinen Bruder an, kann aber nicht anders, als ihn schlussendlich stürmisch zu umarmen. »Danke«, hauche ich leise und drücke ihn noch einmal feste, bevor ich mich von ihm löse.
»Da gibt's nichts zu Danken«, sagt Dad bestimmt und nimmt mich in den Schwitzkasten, um mir 'ne Kopfnuss zu verpassen. »Und ich stimme Trevor zu. Du sollst wissen, dass ich stolz wäre Vincent irgendwann einmal meinen Schwiegersohn nennen zu können.«
Mit nun dunkelrotem Gesicht sehe ich zu Dad auf, der nur lacht und mich dann noch einmal richtig umarmt. Ich erwidere erleichtert seine Umarmung und kann mich nicht glücklicher schätzen. Sie akzeptieren es und freuen sich sogar darüber, dass es Vincent ist, in den ich mich verliebt habe.
»Ich bin froh, dass du endlich zu deinen Gefühlen stehst, mein Süßer«, mischt sich nun auch Christa ein und quetscht sich zwischen mich und meinen Dad. »Aber warum fragst du uns ausgerechnet heute? Ich freue mich natürlich, dass du zu uns kommst, wenn dich soetwas beschäftigt, aber warum so plötzlich?«
Meine Wangen werden noch dunkler - wenn dies überhaupt noch möglich ist. »Weil ich mich heute Abend mit Vinnie an unserem alten Baumhaus treffe und er mit mir etwas wichtiges besprechen möchte«, flüstere ich, woraufhin ein ›Awww‹ von allen Seiten ertönt, was mich noch verlegener macht, als ohnehin schon.
»Du willst also die Gelegenheit beim Schopfe packen?«, fragt Dad und grinst breit.
»Ja, so in etwa«, murmle ich und sehe überall hin, nur nicht in die Augen meiner Familienmitglieder.
»Na dann auf in den Kampf, Tiger!«, neckt mich Trevor und schubst mich von der Couch.
»Du bist doch von allen guten Geistern verlassen«, lache ich immer noch auf dem Boden sitzend.
Trevor schmollt bloß gespielt, bevor er mir aufhilft und noch einmal kumpelhaft auf die Schulter klopft.
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Während ich schlief
Teen FictionAls Vincents Eltern bei einem Unfall verunglücken und er gezwungenermaßen zu seinem Großvater nach Toronto auf dessen Farm ziehen muss, scheint für ihn alles hoffnungs- und trostlos. Er fühlt sich alleine gelassen und verloren auf der großen weiten...