L.I.E.S #4

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Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch und der unguten Vorahnung, vor Aufregung fast sterben zu müssen, saß sie auf ihrem Platz, wissend, dass sie in wenigen Sekunden vor der Klasse stehen musste und eine Art Vortrag auf Englisch halten. Schon als ihre Lehrerin die Idee "One-Minute-Talk" verkündete, war nicht wirklich jemand begeistert, doch die Aussicht, jetzt vor mehreren Leuten oder generell öffentlich auf der ihr so verhassten Sprache reden zu müssen, steigerte ihren Hass auf dieses Format nur noch. Auch die aufmunternden, gespannten Blicke ihrer Freundinnen zwei Reihen vor ihr, die sie erwartungsvoll anstarren, brachten nichts, um ihr Mut zu machen.
Als schließlich die Schülerin vor ihr geendet hatte und die Lehrerin drauf und dran war, jemanden nächsten auszusuchen, machte ihre Banknachbarin auf ihre nach oben deutende Hand aufmerksam, die sie mit großer Überwindung doch noch gehoben hatte. Überrascht schaute die Lehrkraft auf, forderte sie auf nach vorne zu kommen.
Jetzt musste sie ziehen. 50:50, dass sie das richtige Thema zog. Sie betete, hoffte, flehte inständig, dass es das richtige sein würde. Als sie das Kärtchen umdrehte, hätte sie schreien können. Warum meinte das Schicksal es auch nie gut mit ihr? Fein  säuberlich geschrieben stand da: 'Which mistakes -serious oder less serious- you Jeep repeating?' Warum, Gott? Warum?
Trotzdem machte sie sich bereit, versuchte, sich locker hin zu stellen und sich an alle Punkte zu erinnern, die sie aufgeschrieben hatte.
Klappte im Endeffekt auch nicht, sie vergaß ihren wichtigsten Punkt, weil sie während sie sprach, einen inneren Groll auf die Person hegte, die sie nicht ihr Thema hatte wählen lassen. Auch das Argument, dass sie etwas vorhabe, hatte die ältere Dame nicht beeindruckt. Jetzt hatte sie den Salat, es würde wahrscheinlich eine schlechte Note werden, aber im Moment war sie so sauer, dass es ihr nichts ausmachte.

Unzufrieden kehrte sie nach einem kleinen gnädigen Applaus der Klasse, den sie auf Grund ihrer Leistungen eigentlich nicht verdient hätte, an ihren Platz in der letzten Reihe ganz am Fenster zurück und klopfte missmutig mit ihren Fingerkuppen auf den Holztisch. Den Blick hatte sie dabei fest auf die Frau vorne gerichtet, die inzwischen dabei war, das nächste Opfer auszuwählen.
Auf Nachfrage der Klasse, versprach die Lehrerin, dass sie am Ende nochmal drankommen dürfe. Das linderte ihre Wut ungemein, machte sie aber dafür dreimal so nervös wie vorher.
Als eine weitere Schülerin durch war, stand sie ungebeten auf und versuchte möglichst schnell nach vorne zu gehen. Inzwischen war ihre Aufregung verflogen, sie wusste, was sie tat und für wen. Lächelnd warf sie einen Blick auf die letzte Karte, die noch auf dem Pult lag und die stolz die Worte 'What would be your ideal husband?' trug. Schade eigentlich, dass sie den Einwand, warum in der reinen Mädchenklasse nicht auch 'wife' darstehen könnte nicht mitbekommen hatte. Musste lustig gewesen sein. Das somit indirekte Outing ihrer Banknachbarin wohl ebenso.

Kurz ließ sie ihren Blick über die ganzen erwartungsvoll Gesichter streifen, aber nur auf einer Person ruhte er länger. Tief holte sie Luft, schaute zu ihrer Lehrerin, die ihr das 'okay' gab und begann zu reden.
"My ideal husband would be a wife 'cause I'm bisexual but more interested in women at the moment. I think it would be a Girl sitting in this class, maybe you can guess who she is." Einige, die Bescheid wussten, wandten den Blick zu der Person, von der ich die ganze Zeit nicht die Augen lassen konnte. "She would be perfect for me because she's funny, intellegent and less fast sulky than others so I can discuss with her well, which is very important for a good relationship." Den anerkennenden Blick der Lehrkraft, der nun auf ihr ruhte, überging sie. "In my opinion she's very pretty, I love her red hair and she's very, very cute" damit sprach sie das Mädchen zum ersten Mal richtig an. Sie bemerkte, wie alle, die ihr aufmerksam zuhörten, versuchten, ihrem Blick zu folgen. Grinsend machte sie weiter. "She's good at different sports and at playing her instrument. If she smiles I always smile with her and usually I'm starring at her like a sheep. Sometimes she's a bit virgin, which is funny and cute, too." Das Mädchen warf ihr einen halb belustigten, halb vernichtenden Blick zu. "Her eyes are beautiful and shine the whole time. We can laugh with each other and if it were up to me we could spend endles afternoons together."
Irgendwo hinten hörte sie jemanden quietschen, ignorierte es aber. "She's very helpful and always there if someone needs her."
Einmal holte sie noch tief Luft. "So were you able to guess who I described?
Zwei Sekunden musste sie noch warten, dann tippte die Lehrerin auf ihr Handy, mit dem sie die Zeit stoppte, dann war sie erlöst.
Das laute Klatschen und teilweise rufen ihrer Mitschülerinnen und die leisen Worte 'das war mal ein Coming-out' ihrer Lehrerin hörte sie kaum. Sie fühlte sich, als könnte sie Bäume ausreißen, alles totschlagen, was sich ihr in den Weg stellte. Und sie hatte das befriedigende Gefühl, endlich dem Schicksal ein Schnippchen geschlagen, sich gegen die Norm gestellt, wider aller Erwartungen gehandelt zu haben. Es war großartig.

Kaum saß sie wieder auf ihrem Platz, wanderte ihr Blick zu einer Person in ihrer Reihe, die Tränen in den Augen hatte und ihr mitteilte, wie sehr sie es gerührt hätte. Leicht überfordert nahm sie das Mädchen in den Arm. Aufmerksam wie sie war tauschte ihre Banknachbarin mit ihr Platz, sodass sie der Weinenden den Rücken streicheln und sie trösten konnte.
Das Dauergrinsen bekam sie auch nicht aus dem Gesicht, als auf Grund der ersten auch zwei weitere Mädchen anfingen zu weinen. Überrascht deswegen war sie alle mal. Dass ihre 'Ansprache' so viele berührt hatte, wunderte sie wirklich, gerade, weil sie das Gefühl hatte, in der fremden Spreche nicht die richtigen Worte gefunden zu haben. Obwohl es keine Worte gab, die die Gefühle beschreiben konnten, die sie fühlte, wenn sie nur an die kleine Rothaarige dachte.. man müsste es selbst erlebt haben.

Die restliche Unterrichtsstunde stand sie durch, indem sie -mal wieder- ihren Schaf-move auspackte und weniger mitbekam, was gesagt wurde, als dass sie den Hinterkopf des Mädchens auswendig lernte.

Als endlich die fünfundvierzig Minuten verstrichen waren und die Lehrerin gegangen war, stellte sie sich mehr oder weniger unauffällig hinter die Reihe, in der die Rothaarige saß und strich einer guten Freundin, die ebenfalls dort ihren Platz hatte durch die Haare.

Lang und breit wurde in der kleinen Gruppe, die sie 'die Hohltiere' nannten, darüber geredet, was es doch für eine schöne Filmszene gewesen wäre, hätte sie sie gefragt, ob sie mit ihr Zusammensein wolle und hätte die Jüngere 'ja' gesagt. Überraschend still waren beide. Die eine versunken in Wunschvorstellungen und die andere mit nachdenklichem, leicht verschwommenden Blick, der von der Verliebten natürlich wahrgenommen, aber nicht verstanden wurde.

Irgendwann lockerte sich trotzdem die Stimmung und beide nahmen wieder am Gespräch teil. Während ein Teil von ihnen ihre Sachen zusammenpackte, um sich auf den Weg zu Orchester zu machen, blieben die beiden an der selben Stelle stehen.

Ein unangenehmes Thema wurde angesprochen, indem die Kleinere klarstellte, dass sie es zwar schön, aber nicht zum heulen fand. Zwar wollte die andere nicht, dass die Kleine weinte, aber so etwas zu hören war auch nicht schön. Seit wann aber konnte sie denn viel Verständnis in solchen Dingen von der Rothaarigen erwarten? Aber war es nicht auch eine Charaktereigenschaft, die sie zu lieben gelernt hatte? Ihre nicht vorhandene Erfahrenheit und die Tollpatschigkeit in Bezug auf die Gefühle anderer?

In Gedanken versunken, bekam sie nichts von dem eben geführten Gespräch mit und wurde erst aus diesen gerissen, als irritierenderweise die Kleinere vor ihr auf dem Boden kniete und spaßeshalber einen Antrag machte. Worüber genau hatte sie gerade nochmal nachgedacht..?

Die ebenfalls spaßeshalber ausgesprochene Morddrohung ihrer besten Freundin, weil sie es doch eh nicht ernst meinen würde,  bekam sie auch nur halb mit, zu sehr war sie darauf konzentriert, weder in Heulkränpfe, noch in Wutanfälle auszubrechen.
"Was aber, wenn ich es ernst meine?" "Was? Dass du mit mir zusammen sein willst?" Verwirrt schaute sie die Jüngere an. "Dann würde ich dir nicht glauben und dir sagen, dass du bitte aufhören sollst damit, mir falsche Hoffnungen zu machen und sowas zu sagen." Dem ärgerlichen Gesichtsausdruck sah man an, dass sie das nicht in der Form gemeint hatte und von ihrem Gegenüber falsch aufgefasst worden war. "nein, ich meine doch... wenn ich es wirklich ernst meinen würde?" Sie konnte nicht verhindern, dass Hoffnung in ihrer Brust keimte und darauf wartete, aufblühen zu dürfen, obwohl sie wusste, dass sie diese in spätestens einer Minuten wieder einreißen könnte. "Ich glaube, du würdest meine Antwort darauf kennen und-"
Weiter kam sie nicht, denn Arme wurden um ihren Oberkörper geschlungen, fest und besitzergreifend, wie sie es nie erwartet hätte. Sie konnte ihre Wärme sogar durch ihren dicken Pulli fühlen und konnte nicht umhin, auch die Arme nach einem kurzen Schockmoment sanft um sie zu legen und ihren Kopf auf der Schulter der Kleineren abzustützen. Tief atmete sie den Geruch ein, der ihre Sinne zu betören drohte. Ihre Augen schloss sie und fühlte, wie eine Armada Schmetterlinge in ihrem Bauch Amok lief. Warum beeinflusste allein diese Umarmung ihre Gefühle, ihren Körper so? Ihr Herz drohte gleich zu platzen vor Niedlichkeit, als sie die Rothaarige leise seufzen hörte.

Wenn es nach ihr ginge, könnte sie noch ewig hier herumstehen, ihr nahe sein und endlose Nachmittage mit ihr verbringen.

(1571 Wörter)

Oneshots (Youtuber, real life,...)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt