[blaugrün]

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prolog

Düstere Gestalten huschten über die verregneten Straßen und würdigten einander nicht eines Blickes. Ihre Augen waren stur auf den Weg gerichtet und sahen nur etwas weiter nach oben, wenn es nötig war nach einem Auto Ausschau zu halten.

Einzig und allein zwei Personen am Straßenrand hielten ihren Kopf hoch erhoben und sahen jedem vorbeiziehenden ins Gesicht, während sie unter zwei schwarzen Regenschirmen standen und schwiegen.

Einer von ihnen war noch jugendlich. Er war groß gewachsen und blickte missmutig in den bewölkten Himmel. Sein Blick war kühl und abweisend und sein Unterkiefer war wie bei einem trotzigem Kleinkind leicht nach vorne geschoben. Er hatte eine Hand in der linken Tasche seines schwarzen Mantels.

Sein Begleiter war älter. Vielleicht fünfzig Jahre alt und sah nicht weniger kühl aus als der Jugendliche. Eine Brille saß auf seiner Nase und ließ ihn damit aussehen wie einen Professor. Er sah nicht in den Himmel, sondern beobachtete die Bewohner der Kleinstadt, die ihn nicht beachteten.

"Wieso müssen wir hier im Regen stehen?", fragte der Jüngere und sah zu dem Anderen, dessen Mundwinkel kaum merklich zuckten. Der Junge schnaubte, als er dies bemerkte.

"Ich sagte doch, dass wir zum Strand müssen, Sebastian", erwiderte der Mann kopfschüttelnd. Er nickte einer passierenden alten Dame zu, doch diese sah einfach an ihm vorbei in den Regen.

Sebastian verkniff sich einen bissigen Kommentar und rümpfte leicht die Nase. "Es regnet, Onkel", sagte er bloß, "Falls es dir noch nicht aufgefallen ist."

"Ich habe nicht vor schwimmen zu gehen."

Der Junge seufzte leise und grinste leicht, als ein brünettes Mädchen seinen Weg kreuzte und ihm zaghaft zulächelte. Als sie seinen Blick bemerkte, beschleunigte sie ihr Tempo und sah zu Boden. Doch Sebastian wusste, dass sie rot geworden war.

"Worauf warten wir eigentlich noch?", wollte er wissen, als er seinen Blick von ihr gelöst hatte und sah seinen Onkel genervt an. "Auf ein Zeichen", antwortete dieser knapp und schloss seine Augen, als würde er sich konzentrieren.

"Ein Zeichen?", spottete sein Neffe, "Sind wir in einem Kriminalroman, oder wie?" Er erhielt keine Antwort. Bloß die Regentropfen und die Schritte der Menschen waren noch zu hören.

"William?" Sebastian verdrehte die Augen, als er noch immer keine Antwort bekam. Denn keine Antwort war bekanntlich auch eine Antwort. Und im Falle seines Onkels hieß das so viel wie Lass mich in Ruhe.

Diesen Satz bekam Sebastian von William oft zu hören oder er wurde ihm durch Stille mitgeteilt. Er war zwar ebenfalls kein großer Redner, doch er konnte es nicht leiden, wenn man keinen Klartext mit ihm sprach.

Entweder man sagte alles von Anfang an oder man sollte überhaupt nichts sagen. Das war es, was der Junge davon dachte. Da kümmerte es ihn nicht, ob es sich um seinen Onkel oder einen der Jugendlichen in seiner Umgebung handelte.

"Und was ist das für ein Zeichen?", stellte er nun eine andere Frage, auf die er hoffte eine Antwort zu erhalten, die wenigstens halbwegs zufriedenstellend war.

"Das -", begann William, doch Sebastian unterbrach ihn gleich nach dem ersten Wort. "Das sehe ich, wenn es so weit ist, nicht wahr?", fragte er genervt und stöhnte.

"Exakt." Der Ältere von beiden lächelte in sich hinein und grüßte ein älteres Ehepaar mit einem freundlichen Nicken. Diesmal schenkte man ihm ein leichtes Lächeln und ein zaghaftes Winken, ehe auch diese Personen vorbei zogen und die beiden hinter sich ließen.

"Ich hätte gerne eine anständige Antwort", brummte Sebastian und spielte gedankenverloren mit dem Ring an der Hand, die in seiner Jackentasche vergraben war.

Er hatte ihn bekommen, als seine Eltern vor zehn Jahren tot im Wald aufgefunden worden waren. Bis heute hatte die Polizei den Mörder nicht ausfindig gemacht und es schien, als würde es für immer so bleiben.

Der Ring jedenfalls hatte einst seinem Vater gehört und davor seinem Vater. Wie in jedem Roman mit einem Familienerbstück. Er war silbern und nicht sonderlich auffällig. In das Metall war ein Schriftzug eingraviert: Momento te hominem esse. Bedenke, dass du ein Mensch bist.

Sebastian lachte leise, als er mit dem Zeigefinger über diese vier Wörter strich. Bedenke, dass du ein Mensch bist. Nur war er das nicht. Seit exakt zwei Jahren war er kein Mensch mehr. Er war etwas größeres, mächtigeres und stärkeres als ein Mensch.

Er war ein Wolf.

Genau als er dies dachte, durchzückte ein gewaltiger Blitz den grauen Himmel und ließ einige Passanten vor Schreck zusammen zucken oder gar aufschreien. Einige Kinder begannen zu Weinen und auch Sebastian war nicht ganz unbeeindruckt.

Der Blitz erleuchtete den Nachthimmel in einem leuchtenden blaugrün und das machte ihn stutzig. Blitze waren weiß oder hellblau. Doch er hatte noch nie einen blaugrünen gesehen. Er sah zu seinem Onkel, der seine Augen nun wieder geöffnet hatte. Der Hauch eines Lächelns umspielte seine Lippen.

"Lass mich raten", begann Sebastian, "Das war das Zeichen." William grinste ihn an und hastete los. Er humepelte die Straße entlang und Sebastian eilte hinter ihm her. Die beiden überquerten eine Brücke und gingen schließlich einen schmalen Weg durch die Dünen.

Der Regen prasselte auf ihre Schirme hinab und der Wind heulte. Sand flog Sebastian ins Gesicht und er musste sich die Hand vor seine Augen halten, um nicht kurzzeitig blind zu sein.

Donner grollte und erneut sah Sebastian ein blaugrünes Licht am Himmel. Er hörte einen lauten Schrei und die aufgeregten Stimmen aus der Stadt. Er konnte hören, dass sie rannten und versuchten so schnell wie möglich einen Weg nach Hause zu finden und dort Schutz vor dem Gewitter zu suchen, das sie alle in Angst und Schrecken versetzte.

Doch den Jungen kümmerte das nicht wirklich. Er vertraute darauf, dass sein Onkel sich sicher war, dass ihnen beiden nichts passieren konnte. Er mochte vielleicht merkwürdig, verletzt und ein wenig abweisend sein, doch unintelligent war er auf alle Fälle nicht.

Sebastian begann an dieser Aussage zu zweifeln, als sein Onkel geradewegs auf das Meer zu rannte. Die Wellen türmten sich und Wasser spritzte dem Jüngeren ins Gesicht, als er William folgte.

Er wollte gerade fragen, was das alles sollte, als er sie sah.

In einem knielangen, nassen Kleid saß sie zwischen den Wellen und atmete so schwer, dass selbst ein normaler Mensch sehen könnte wie ihre Brust sich nur schwerfällig hob und senkte.

Ihre Haare und ihre Kleidung klebten an ihrem Körper und ihre Augen waren geschlossen. Sie strahlte eine gewisse Autorität aus, doch diese wurde durch ihre zusammengekauerte Haltung auf dem nassen Sand zunichte gemacht.

Sie hob ihren Kopf und sah William und Sebastian an. In ihrem Blick lag keine Emotion. Weder Erleichterung noch Erschöpfung. Er war völlig emotionsleer und ließ Sebastian erschaudern.

Ihre Beine zitterten sichtlich, als sie sich aufrichtete und mit hoch erhobenem Kopf einen Schritt auf die beiden zutat.

"Ihre Majestät", sagte William und Sebastian beobachtete entgeistert wie er sich verbeugte und nicht zu dem fremden Mädchen aufsah. Diese nickte und sah aus funkelnden Augen zu Sebastian.

"Was?", fragte er und runzelte die Stirn. Erwartete sie etwa, dass er sich auch verbeugte?

Sie öffnete leicht ihre Lippen, als wolle sie antworten, ehe sie mit einem leisen Stöhnen nach hinten umkippte und mit dem Kopf auf dem Sand aufschlug.

Siren's SongWo Geschichten leben. Entdecke jetzt