2.

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Ich öffnete die Tür und trat in das Haus ein, welches ich mein Zuhause nannte. "Hallo?!" rief ich laut, während ich Schuhe und Jacke abstreifte und beiseite legte. Als ich dann durch die Holztür ins Wohnzimmer trat saß Onkel John auf dem Sofa und schaute fern, was auch sonst. Er hatte vor einer Weile innerhalb kürzester Zeit seine Ehefrau und seinen Job verloren, seitdem wohnte er bei uns und lungerte den ganzen Tag irgendwo herum. Der Mann hatte noch weniger Hobbys als ich und Freunde schien er auch keine zu haben. Aber naja, mir war es relativ egal ob er da war oder nicht. Ich fühlte mich im Umfeld meiner Familie im Moment allgemein etwas komisch, vielleicht weil ich ein so großes Geheimnis vor ihnen verbarg. Es war nicht so, dass die Beziehung zu meinen Eltern, zu meinem Bruder oder zu Onkel John im Keller war, es fühlte sich eben einfach nur teils etwas seltsam an. Das war alles.
Ich achtete nicht weiter auf meinen Onkel, ging stattdessen einfach die Treppe hoch und öffnete die Tür, die links abging und zu meinem Zimmer führte. Ich betrat den Raum, schmiss die Tür hinter mir ins Schloss, ließ meine Tasche mitten im Zimmer einfach fallen und warf mich dann aufs Bett. Das war wirklich das schönste Gefühl überhaupt. Hach, wie ich mein Bett doch liebte. Widerwillig setzte ich mich wieder auf. Ich sah mich in dem mir so vertrauten Zimmer um. Ich hatte zwar öfter renoviert und dekorierte ständig um - oder eher gesagt ich räumte Sachen von einem Fleck an einen andere - aber im Grunde hatte ich nie ein anderes Zimmer gehabt als dieses hier. Die blass rosa Wände waren ab und zu aufgefrischt worden, hatten aber nie ihre Farbe gewechselt. Die Fenster baten immer noch den selben Ausblick wie schon vor 16 Jahren und mein Bett stand seit ich denken konnte in ein und der selben Ecke des Zimmers. Ich gähnte und ließ mich dann zurück fallen. Was sollte ich nur mit dem Rest des Tages anfangen? Schon irgendwie traurig, in der Schule tröstete ich mich immer mit dem Gedanken, dass ich gleich nach Hause konnte, dass es bald vorbei war... Und dann kam ich Zuhause an und hatte absolut nichts zu tun. Ich meine, ich könnte natürlich Hausaufgaben machen, aber in welcher Weise wäre das denn besser als Schule? Verzweifelt seufzend legte ich eine Hand an meinen Kopf, es nervte mich, dass meine Hände immer so verdammt warm waren. So eine schöne kühle Hand an den Kopf zu halten hätte viel mehr Effekt gehabt... Was für ein unnützer Gedanke, es ging ehrlich bergab mit mir. Erneut gähnend setzte ich mich wieder auf, stand sogar auf und ging herüber zu meinem Sofa um den Rest des Tages Serien zu gucken.

Irgendwann hörte ich die laute Stimme meines Vaters durchs Haus rufen. "Estelle, es gibt Essen!" gemeinsam zu Abend zu essen war irgendwie eine Tradition meiner Familie, meine Eltern waren regelrecht beleidigt, wenn jemand nicht zu diesem gemeinsamen Abendessen erschien. Also schaltete ich meinen Fernseher aus und machte mich auf den Weg nach unten. Als ich an dem Spiegel in meinem Zimmer vorbei kam hielt ich jedoch kurz inne. Gott, ich sah echt zerstört aus. Mein blondes Haar hatte ich irgendwann während des Serienguckens in einen Pferdeschwanz gebunden, weil es mich gestört hatte und nun waren zahlreiche Strähnen heraus gefallen und hingen mir lose ins Gesicht. Mit dem Fingerknöchel meines Daumens wischte ich unter meinen Augen lang um die runtergebröselte Mascara zu entfernen, alles was ich erreicht war jedoch diese zu verschmieren. Einen Moment lang blickte ich durch den Spiegel in meine eigenen stechend grünen Augen, dann beschloss ich, dass mein Aussehen sich durch bloßes anstarren meiner Selbst nicht verbessern würde und unten eh niemand war, für den ich gut aussehen musste. Also setzte ich meinen Weg fort, bewegte mich die Treppe runter ins Esszimmer. Mein älterer Bruder Oliver saß bereits am Tisch, ebenso mein Vater und Onkel John. Mit Vater unterhielt sich mit seinem Bruder und wirkte dabei äußerst aufgebracht. Meine Mutter war noch dabei Sachen, vor allem Essen, hin und her zu räumen, während ich nun auf den Tisch zu ging und mich auf meinen üblichen Platz fallen ließ. "Ich finde diese neunen Trends sowas von schrecklich, ich meine... Er hatte eine Frau und Kinder und jetzt entscheidet er sich plötzlich mit einem anderen Mann durch zu brennen? Das ist doch vollkommener Schwachsinn." vernahm ich die Stimme meines Vaters, die mir einen kleinen Stich versetzte. "Man nennt es Bisexualität." warf ich kühl ein. Ich hatte zwar keine Ahnung von wem mein Vater sprach oder was genau passiert war und auch wusste ich, dass er nicht mit mir sprach, aber ich konnte mir den Kommentar trotzdem nicht verkneifen. "Ja und das ist nur ein blöder Trend. Hauptsache man rebelliert gegen die menschliche Natur. Wenn Gott gewollt hätte, dass Adam sich einen anderen Adam sucht hätte er ihm keine Eva gegeben sondern eben einen zweiten Adam." diese Aussage tat noch mehr weh als die letzte, aber woher sollte er das schon wissen? Woher sollte irgendwer wissen, wie nahe mir dieses Thema ging. Ein Bild von Mercedes schoss mir durch den Kopf und ich biss mir auf die Unterlippe, konnte mich dadurch jedoch leider nicht daran hindern weiterhin Protest zu leisten. "Was kann man denn dafür in wen man sich verliebt?" beschwerte ich mich leise, mein Vater hatte Johns Existenz mittlerweile scheinbar vollkommen vergessen und war komplett auf mich fokussiert, was mir um ehrlich zu sein definitiv nicht gefiel. "Was weißt du schon, du bist doch noch ein Kind, sammel erstmal ein paar Jahre Lebenserfahrung, dann wirst du auch so denken wie ich." entgegnete mein Vater nun und brachte mich dazu einen inneren Kampf gegen den Instinkt einfach aufzustehen und zu gehen auszufechten. Ich sagte gar nichts mehr, es hatte ja eh keinen Zweck und er hatte ja eh keine Ahnung. Ich würde niemals, wirklich niemals, so denken wie er, weil ich einfach nicht war wie er. In akzeptierte Menschen wie sie waren, auch wenn sie anders waren als der Norm, vielleicht vorrangig aus dem Grund, dass ich auch wollte, dass man mich akzeptierte wie ich war, auch wenn ich vielleicht nicht den Vorstellungen von überhaupt irgendwem entsprach.
Meine Mutter kam nun mit dem Essen, was mich in gewisser Weise rettete, aber die Stimmung blieb trotzdem noch angespannt, zumindest empfand ich es so. Stumm aß ich mein Essen, brachte dann meinen Teller in die Küche während alle anderen noch immer in Gespräche vertieft am Esstisch saßen. "Ich gehe hoch." verkündete ich, man sah meiner Mutter an, dass sie etwas dagegen sagen wollte, aber sie blieb stumm, vermutlich weil sie wusste, dass kein Protest eine Wirkung hätte.
Ich verließ also schnellen Schrittes das Esszimmer, stieg die Treppe hinauf, betrat mein Zimmer und schloss die Tür hinter mir.
Da war ich also wieder, vollkommen ratlos was ich mit meinem Leben anfangen sollte.
Ein Seufzen verließ meine Lippen, während ich entschloss mich vor meinem Bett auf den Boden zu setzen. Vielleicht war das irgendwie komisch, aber ich mochte es dort zu sitzen. Den Rücken gegen das Bett gelehnt, die Beine an den Körper gezogen. Nachdem ich eine gemütliche Position gefunden hatte griff ich nach meinem Handy, welches zum Glück nicht sonderlich weit weg lag. Mei hatte eine Gruppe für ihre kleine Geburtstagsfeier gemacht. "Jessi hat zugesagt!!" schrieb sie und zauberte mir durch den Gedanken an den Gesichtsausdruck, den sie wohl dabei gehabt hatte in Lächeln auf die Lippen. "Aber natürlich doch Cutie." Jessica hatte es doch tatsächlich mal geschafft eine WhatsApp-Nachricht zu beantworten, da musste man ja schon fast stolz auf sie sein. Normalerweise hatte sie dafür zu viel zu tun.
Ich schloss den Chat, schaltete Musik ein und legte das Handy dann wieder weg. Noch immer war ich kein Stück weiter in der Frage, was ich nun tun sollte um diesen Abend etwas spannender zu gestalten, aber immerhin lief Musik, da ich also Musik hörte fühlte ich mich gleich ein Stück produktiver, aber nicht wirklich besser. Ach verdammt, es musste doch irgendwas geben was ich tun konnte. Den ganzen Tag vor dem Fernseher zu sitzen konnte doch nicht ehrlich der Sinn meines Lebens sein... Ich verwarf die Gedanken als mir auffiel, dass sie echt undankbar und unschön klangen.
Stattdessen lauschte ich einfach eine Weile konzentriert auf die Musik. Vielleicht war das noch etwas, was mich seltsam machte, aber manchmal genoss ich es sehr einfach nur da zu sitzen und den Lyrics irgendwelcher Lieder aufs genauste zuzuhören, mir die im Song beschriebenen Situationen in meinem Kopf vorzustellen. Ich liebte Serien, Filme und Bücher, aber an mein Kopfkino kam selten etwas ran. Komplett in meinen Gedanken merkte ich gar nicht wie ich leise begann die Lieder, die mein Handy abspielte mitzusingen. Noch viel weniger merkte ich, wie sich die Tür, welche außerhalb meines Blickfeldes lag, öffnete und mein Bruder eintrat. Erst als ich ihn im Augenwinkel näher kommen sah, hörte ich auf zu singen, griff rüber in Richtung meines Kopfkissens, streckte mich um es zu erreichen und warf es nach ihm. Obwohl ich bei Schulsport oder ähnlichem immer miserabel warf, war ich echt ein Profi darin Leute mit Kissen zu beschmeißen und so traf ich auch dieses Mal. "Was willst du?" fragte ich und es klang nicht einmal wirklich schnippisch oder genervt. "Wie kommst du darauf, dass ich was von dir haben will?" fragte Oliver und trat vor mich, damit ich sah wie er seine Augenbraue in die Höhe zog. "Warum solltest du sonst hier sein?" fragte ich zurück und schaute zu ihm auf. Ich war aufschauen gewöhnt, viel mehr als heruntergucken, von daher hatte ich mit ersterem mittlerweile kein Problem mehr. "Vielleicht wollte ich einfach mitsingen?" schlug er vor und klang dabei beabsichtigt nachdenklich. Ich lachte reichlich kalt und machte Oliver mit meinem Blick klar, dass ich ihm das nie im Leben abkaufen würde. "Ja okay, ich wollte eigentlich nur fragen, ob du ein Handyaufladekabel übrig hast. Meines ist in einem tragischen Unfall gestorben." ich verdrehte die Auge. "Ich dachte schon es wäre was wichtiges." erwiderte ich, stand auf und kramte aus einer kleinen Box ein Aufladekabel heraus. "Dachtest wohl ich mache dein Leben mal ein bisschen spannender Schwesterchen?" fragte Oliver lachend, ich sagte nichts mehr, reichte ihm nur das Kabel. Denn die traurige Wahrheit war, er hatte irgendwie Recht... Vielleicht auch ein bisschen mehr als nur irgendwie.

Girls kiss betterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt