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"Mercedes?" das Mädchen saß auf dem Lehrerpult und warf lächelnd ihre lila Haare über die Schulter, als ich ihren Namen aussprach. "Komm her mein Sternchen." irgendwas an ihrer Stimme wirkte auf mich wie ein Droge, ich fühlte mich unendlich angezogen von ihr, konnte gar nicht anders als einen Fuß vor den nächsten zu setzen, immer weiter auf sie zu zugehen. Aus welchem Grund auch immer bewegte ich mich jedoch in Zeitlupe und so sprang sie auf, bevor ich sie erreichen konnte. "Komm schon!" forderte sie und bewegte sich aus dem Raum heraus. Ich folgte ihr, bewegte mich dabei zum Glück nicht mehr in Zeitlupe. Doch als ich hinter ihr den Klassenraum verließ und in den langen, leeren Flur trat verschwand Mercedes plötzlich. "Mercedes?" fragte ich in die vollkommene Stille herein, doch ich bekam keine Antwort. Alles war still, beängstigend still. "Mercedes?" wiederholte ich meine Frage dieses Mal etwas dringlicher. "Komm schon!" wie eine geisterähnliche Gestalt erschien Mercedes am Ende des Ganges und verschwand wieder noch bevor das Echo ihrer Worte verklangen war. Ich lief den Gang entlang, entdeckte Mercedes Gestalt am Ende eines anderen Ganges, welcher nach links von dem Gang in dem ich gegenwärtig stand abging. Also lief ich auch diesen Gang hinunter und ebenso den nächsten in dem ich Mercedes sah. Eine gefühlte Ewigkeit bewegte ich mich so durch die Schule, jedes Mal wenn ich auf dem Weg zu ihr war verschwand Mercedes wieder. 

Irgendwann hatte ich eine Sackgasse betreten, stand nun vor der Tür zur Cafeteria. Die ganze Zeit über war es elendig still gewesen, keine schöne, entspannende Stille. Es war still gewesen auf eine solche Weise, dass man seinen eigenen Atem hören konnte. Nun aber, da ich vor der Cafeteria stand drangen Stimmen durch die Tür aus dieser hinaus an meine Ohren. Ich atmete tief durch ehe ich vorsichtig die Tür vor mir öffnete. Ich ließ meinen Blick über die Masse an Menschen schweifen, die sich in dem Raum vor mir versammelt hatte. 
Mercedes saß an der gegenüberliegenden Seite der Cafeteria auf einem Tisch. Die Leute, die an diesem Tisch saßen und aßen schienen sie nicht wahr zu nehmen, niemand schien sie wahr zu nehmen, niemand außer mir. "Komm her Sternchen." mal wieder wie hypnotisiert von ihrer Stimme, die für einige Sekunden die Stimmen all der anderen Leute, die wirr durcheinander redete, verstummen ließ, bewegte ich mich auf sie zu. Ich drängelte mich durch die vielen Menschen, die sich von Sekunde zu Sekunde zu vermehren schienen. Immer lauter wurde die Geräuschkulisse, immer näher schien das Gedrängel zu werden. Leute streiften mich, berührten meine Haut, rempelten mich an. Ein Teil von mir wollte einfach nur umdrehen und weg rennen, ganz weit weg, irgendwo hin wo niemand war und wieder diese allumfassende Stille herrschte, welche mir im Verglich zu dem hier plötzlich wünschenswert erschien. Aber der andere, stärkere Teil von mir wollte zu Mercedes, wollte nach dieser langen Verfolgungsjagd endlich bei ihr ankommen.
Also ging ich weiter, bewegte mich Schritt um Schritt vorwärts, immer und immer weiter auf den Tisch zu, auf dem Mercedes noch immer saß. 
Ich bete darum, dass sie sich nicht wieder einfach in Luft auflösen würde wenn ich bei ihr ankam. 

Nach einer gefühlten Ewigkeit hatte ich sie dann endlich erreicht, stand direkt vor ihr. Das Lächeln auf ihren Lippen wurde breiter. Sie stellte sich auf den Tisch, auf dem sie bis eben gesessen hatte, streckte mir ihre Hand entgegen. Unsicher und voller Angst, dass sie wieder verschwinden würde starrte ich eine Sekunde ihre Hand an, ehe ich meine eigen ausstreckte und die ihre ergriff. Auf einmal wirkte Mercedes so gar nicht mehr wie eine geisterhafte Gestallt. Ich spürte ihre kühle Hand in meiner. Sie drückte meine Hand und zog mich dann zu sich auf den Tisch. Ich ließ dies kommentarlos zu, stand nun neben ihr, hatte sie endlich erreicht. Mercedes drehte mich zu sich, so dass ich direkt vor ihr stand, ihr in die Augen blicken musste. Sie legte ihre Arme um meine Mitte, zog mich ein Stück näher. Instinktiv legte ich meine Arme um ihren Nacken, ich war noch immer vollkommen in ihrem Bann, blickte in ihre wunderschönen kaffebraunen Augen und wollte nichts mehr als sie einfach verdammt nochmal zu küssen. Mercedes lehnte sich leicht vor, kam meinen Lippen immer näher. Doch ehe sie mich küssen konnte begann Panik mich zu erfüllen. Ich drehte den Kopf, sah herunter in die Menge an Leuten, die alle zu uns hinauf starrten. Ihre abschätzigen Blicke klebten auf uns, niemand sagte mehr ein Wort, stattdessen herrschte wieder diese vollkommene Stille, die schon vorhin auf den Fluren die ganze Zeit präsent gewesen war. Mein Atem beschleunigte sich und der Bann war gebrochen. Ich wollte Mercedes nicht mehr küssen, war nicht mehr wie hypnotisiert von ihrer Stimme und Anwesenheit. Ich wollte einfach nur noch weg hier, ganz schnell, ganz weit weg. Vollkommen panisch löste ich mich von Mercedes, versuchte sie weg zu stoßen, doch sie hatte ihre Arme noch immer fest um meine Mitte gelegt. Verzweifelt suchte ich nach einem Weg hier heraus, aber es gab keinen. Ich wollte mich nicht wieder durch die Menge drängeln, vor allem nicht jetzt wo mich alle so ansahen als wären sie angewidert von mir. Mein Atem beschleunigte sich noch mehr, mein Herz schlug schneller. Ich wollte schreien, wollte mich bewegen, wollte eben einfach irgendwas unternehmen, aber es gelang mir nicht. Ich stand also einfach nur da und atmete so schwer, als wäre ich gerade einen verfluchten Marathon gelaufen. Wie zur Hölle sollte ich hier weg kommen? Ich wollte hier weg! Sofort!

Ich riss die Augen auf, noch immer pochte mein Herz als würde es gleich aus mir heraus springen. Ich hatte Schwierigkeiten zu atmen. Es war nur ein Traum gewesen, zum Glück. Vorsichtig setzte ich mich auf, fuhr mit den Händen durch meine Haare. Irgendwie fand meine Hand ihren Weg zu meinen Lippen, welche ich vorsichtig mit meinen Fingerspitzen betastete. Beinahe hätte sie mich geküsst. 

Ich hielt eine Weile inne, versuchte nicht zu denken, nicht zu fühlen, mich einfach nur darauf zu konzentrieren meinen Atem und Herzschlag wieder unter Kontrolle zu bekommen, was mir zum Glück auch halbwegs gelang.
Jetzt im Nachhinein schien es offensichtlich, dass ich geträumt hatte, die ganze Situation hätte so niemals im realen Leben vorkommen können.
Aber es hatte sich eben so real angefühlt, warum mussten sich meine Träume immer so real anfühlen?
Ich schloss die Augen, atmete tief durch, ehe ich mir erneut durchs Haar strich. Mein Blick glitt herüber zu meinem Handy. Mit einer schnellen Bewegung schaltete ich das Display an und betrachtete die Uhrzeit, die auf dem solchen angezeigt wurde. Es war bereits viertel nach fünf, um eine solche Uhrzeit lohnte es sich nicht zu versuchen weiter zu schlafen, das wusste ich aus Erfahrung. Ich stand also auf, ging herüber ins Badezimmer und spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht, aber wirklich aufwecken tat mich das nicht. Ich sah auf und betrachtete mein Spiegelbild, meine müden grünen Augen hatten für den Moment ihren Glanz verloren und ich war so bleich, dass ich einer weißen Wand Konkurrenz machen könnte. Schnell wendete ich meinen Blick ab, wenn ich mich noch weiter ansehen würde, würde mir das nichts außer einer Menge Minderwertigkeitskomplexe einbringen. 
Was sollte ich nun also mit der gewonnenen Stunde anfangen? Wie konnte ich mich von diesem komischen und echt unschönen Traum ablenken? Ich beschloss erstmal meine Zähne zu putzen, mich umzuziehen und meine Sachen zusammen zu packen, wie ich es jeden Morgen tat. 
Mein Kopf wurde so sehr von Gedanken durchflutete, dass ich keinen dieser Gedanken mehr klar erfassen konnte, alles was mir blieb war eine verwirrende Gedankensuppe. In letzter Zeit war ich echt etwas durch den Wind, ich wusste nicht mehr was ich tun sollte, alles in mir und auch außerhalb von mir schien einfach nur noch verwirrend und unklar und ich war eben einfach gänzlich überfordert. 
Ein Gähnen schlich sich durch meine Lippen während ich mich unschlüssig wieder auf mein Bett fallen ließ und eine Weile lang einfach nur an die Decke starrte. 
Draußen plätscherte der Regen auf die Fenster, ein wirklich schönes Geräusch wie ich fand. Aber gleichzeitig verdarb mir der Regen noch mehr die Laune heute noch das Haus zu verlassen. Ich seufzte, warum musste auch immer alles so kompliziert sein? Jeder einzelne Tag war einfach nur kompliziert und ich hatte keinen Bock darauf. So konnte es nicht mehr lange weiter gehen, sonst würde ich früher oder später noch durchdrehen. 

Erneut erhob ich mich aus meinem Bett, ging dieses Mal die Treppe herunter in die Küche. Kaffee, das war jetzt genau was ich brauchte. Es war schon irgendwie traurig wie süchtig ich nach diesem wundervollen Heißgetränk war, aber wenn ich etwas Kaffee getrunken hatte fühlte ich mich nun einmal immerhin etwas besser. 
Genau diese Wirkung trat auch heute ein, ich trank langsam und genüssliche meine Tasse leer, verbrachte zwischendurch immer mal wieder eine Weile damit einfach die braune Flüssigkeit anzusehen und dabei etwas in meinen Gedanken zu versinken. 
Warum zur Hölle konnte ich an nichts anderes mehr denken als an Mercedes und die ganze Situation mit ihr? 
Mittlerweile konnte ich mich kaum noch daran erinnern, womit sich meine Gedanken die ganze Zeit beschäftigt hatten, bevor ich mich in diese Schönheit mit den Kaffeeaugen verguckt hatte.
Immer gab es diese Debatten um die Frage ob Liebe eine Entscheidung oder nur ein Gefühl war, doch für mich lag die Antwort auf diese Frage klar wie Glas auf der Hand. 
Wenn Liebe eine Entscheidung wäre, dann hätte ich mich in irgendeinen möchtegern Gentleman verliebt, in jemanden, den ich meinen Eltern vorstellen könnte, jemanden der nicht vergeben war, jemanden bei dem ich wenigstens den Hauch einer Chance hatte. Das hätte alles so einfach sein können. Aber Liebe war eben keine Entscheidung sondern ein unkontrollierbares Gefühl. Und daher hatte ich mich in Mercedes verliebt. In Mercedes die das gleiche Geschlecht hatte wie ich, die ich deswegen niemals meinen Eltern vorstellen könnte, in Mercedes die Lukas hatte, in Mercedes die so unerreichbar für mich war wie die Sterne am Nachthimmel. 
Niemals hätte ich mich dazu entschieden in diese komplizierte Situation zu geraten, aber man hatte mir keine Entscheidung gelassen, niemand hatte mich je gefragt. Es war einfach so passiert, einfach so, ohne, dass ich irgendwas dafür konnte oder dagegen unternehmen konnte.

Girls kiss betterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt