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Nach 6 Wochen in Gefangenschaft durfte ich endlich wieder unter meiner eigenen Aufsicht leben. Niemand mehr, der mich zum Essen drängt, mich auf eine Waage stellt oder meine Ausscheidungen überprüft und untersucht.

Die Ärzte erzählten meinen Eltern, ich sei jetzt stabil.

Bereit um wieder auf mich gestellt zu leben. Wie ein Mensch der essen kann. Es gab eine lange Diskussion, wo ich wohnen würde. Ich weigerte mich, wieder zu meinen Eltern zu ziehen. Ich war doch nicht ohne Grund kurz nach meinem 18. Geburtstag von zuhause ausgezogen. Nicht, dass es große Probleme in unserer Familie geben würde. Aber ich habe mich zuhause gefangen gefühlt. Gefangen in der wonnigen Mamapapawelt. Es war Zeit auszubrechen. Mich selbst besser kennenlernen. Auf mich gestellt sein. Selbst entscheiden. Mir keine Probleme von meinem Umfeld aufschwatzen lassen. Ich rede mir lieber selber Probleme ein.

Essstörungen hatte ich schon lange bevor ich ausgezogen war. Mit 12 fing ich an, Stimmen in meinem Kopf zu haben. Mit 15 fing ich an, auf sie zu hören. Jahrelang redeten sie mir ein, ich solle so viel essen wie ich kann und dann noch mehr. Und wenn ich damit fertig war, dann nochmal das Doppelte davon. Denn es fühlt sich gut an. Essen. Das ist doch nicht gefährlich. Was soll an Essen gefährlich sein? Essen wenn man keinen Hunger hat und nicht damit aufhören, obwohl man längst mehr als satt ist.

Über 1 Jahr ging das so, das Normalgewicht hatte ich überraschenderweise nur leicht überschritten. Bei einer täglichen Kalorienzufuhr von 3000-4000 Kalorien und an schlimmen Tagen sogar bis zu 8000 Kalorien, hätte man mit starkem Übergewicht rechnen müssen.

An den 8000-Tagen ging es mir hundeelend. Und wenn ich die Stimme fragte, ob das denn jetzt genug sei, antwortete sie nicht. Sie war anscheinend zufrieden mit meiner Arbeit. Stattdessen drängte sich eine andere Stimme in meinen Kopf. Sie war verärgert und wollte alles ungeschehen machen. Alles sollte raus, alles weg. Keine Kalorien, weniger essen, dünn werden. Essen Bah!

Nach und nach gewann die neue Stimme die Oberhand, weil sie mir einen tollen Körper und ein besseres Leben versprach. Ein Leben, das nicht in Essen ersäuft. Also hörte ich nun auf die neue Stimme.

Meine Eltern bekamen davon absolut nichts mit. Weder dass ich zwischendurch leicht moppelig war, noch dass ich danach immer weiter abnahm. Erst als ich ausgezogen war und sie mich seltener sahen, fiel ihnen auf, dass ich immer weniger wurde.


Jetzt nach der Entlassung aus der Klinik darf ich endlich in meine kleine Wohnung zurück. Ich habe mit meinen Eltern abgemacht, dass mich meine Mutter einmal in der Woche besucht um mich zu wiegen und zu versichern, dass ich nicht wieder verhungere. Im Gegenzug muss ich nicht nach Hause ziehen. Ein Kompromiss mit dem ich leben kann. Ich habe meine Tricks, mit denen ich mich auf der Waage schwerer machen kann als ich bin.

Nachdem ich mich von meinen Eltern verabschiedet habe und sie endlich gefahren sind, räume ich meinen kleinen Koffer aus. Mache die Wohnung ein bisschen sauber und schalte den Fernseher ein, damit im Hintergrund eine Geräuschkulisse entsteht. Dann pinkle ich alles überflüssige aus mir raus und stelle mich auf meine geheime Waage, die ich erst hinter der Waschmaschine hervorholen muss.

Komplett nackt stelle ich mich auf das Monster, das mir gleich eine Zahl entgegenschreien wird, die mir nicht gefallen wird.

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50 Kilogramm. 8 verdammte Kilo haben die mir draufgezaubert. Die Stimme in meinem Kopf, die sich in der Klinik noch so schön zurückgehalten hatte, fängt an zu toben und zu brüllen. Sie hallt in meinem plötzlich so leeren Schädel hin und her und lässt meinen Kopf dröhnen.

Ich will mich töten. Ich will mir die Haut vom ganzen Körper reißen und sie zum Trocknen in die Sonne hängen, sodass das Fett und Öl daran ausdunstet. Ich will mir das Fleisch, das zu viel an meinem Körper ist abschneiden. Ich will meine Organe herausreißen, damit ich nichts mehr fühlen muss. Die Stimme soll aufhören zu schreien. Ohne dass sich meine Beine daran erinnern könnten, stehe ich in der Küche und hole das Nudelholz aus der Schublade. Dann zertrümmere ich mir damit die Arme, Schienbeine und Knie, bis ich auf den kalten Küchenfliesen auf dem Rücken liege, meinen Körper nicht mehr spüren und die Stimme nicht mehr hören kann.

Wie gut, dass ich stabil bin.

I want to see my bones • TWWo Geschichten leben. Entdecke jetzt