Ich bin anders

Kapitel 1

Ich lebe bei meiner Mutter. Meinen Vater habe ich nie kennengelernt, und mit der Zeit habe ich es aufgegeben, meine Mutter nach ihm zu fragen. Viel Geld haben wir auch nicht, da meine Mutter anstatt zu arbeiten lieber den ganzen Tag auf dem Sofa rumgammelt. Ich selbst gehe wenigstens zur Schule, zwar habe ich keinen Spaß daran und sonderlich gut bin ich auch nicht, aber ich gehe hin. Freunde habe ich auch keine, aber das ist in meinen Augen etwas Positives. Ich will auch gar keine. Die verstehen mich sowieso nicht und halten mich für irre oder gestört. Na und? Sie selbst sind doch auch irre und gestört. Sie kreischen oft und kichern dumm. Als normal würde ich das auch nicht unbedingt bezeichnen. Und außerdem – einen Freund habe ich ja. Er ist allerdings auch kein Mensch, sondern eine Ratte. Er heißt Rodney und er findet Rumgekreische auch richtig blöd. Das habe ich gemerkt, als ich ihn mit nach Hause gebracht habe und meine Mutter ihn gesehen hat. Ich musste sehr lange auf sie einreden und ihr versprechen, dass er niemals in ihre Nähe kommen wird. Und sowas tue ich nur dann, wenn mir etwas sehr, sehr wichtig ist, und da mir bis zu diesem Tag noch nie etwas so wichtig war, durfte ich Rodney behalten. Rodney ist einer der wenigen Gründe, warum mein Leben doch nicht so hoffnungslos und erbärmlich ist, wie es auf den ersten Blick scheint. Immer wenn ich von der Schule komme und ihn aus dem Käfig lasse, guckt er mich so an, als hätte er im Lotto gewonnen. Und das ist ein sehr gutes Gefühl, wenn man sonst keine Gesellschaft hat. Ich mag es nicht unbedingt, immer allein zu sein, aber nicht allein zu sein, ist viel schlimmer. Und seitdem ich Rodney habe, ist es gar nicht mehr so schlimm. Wenn ich mit jemandem reden will, rede ich mit Rodney. Zwar versteht er nicht, was ich sage, aber es hilft. Ich habe es auch mal mit Tagebuchschreiben versucht, aber damit kann ich nichts anfangen. Und so lange Rodney da ist, brauche ich das ja auch gar nicht.