Kapitel 20

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Ich wache auf – in einem Krankenhaus, wie ich an der kahlen, weißen Decke und dem Neonlicht erkennen kann. Das ist sehr merkwürdig, weil ich jetzt eigentlich tot sein müsste. Aber so abgedreht kann selbst der Himmel nicht sein, denke ich mir. Ein Hoffnungsschimmer glüht in mir auf. Vielleicht lebe ich ja noch. Obwohl ich Angst habe, dass ich doch tot bin, riskiere ich es, mich leicht aufzusetzen und mich genauer umzusehen. Und da sehe ich plötzlich Tims Gesicht vor mir. Verdammt, denke ich, ich bin doch tot. Ich schließe die Augen wieder. Und schon wieder wird alles dunkel. Als ich das zweite Mal aufwache und immer noch die kahle Decke sehen kann, wird mir leichter ums Herz, weil ich anscheinend wirklich noch lebe. Ich setze mich in meinem Krankenhausbett vorsichtig auf. Dieses Mal sitzt Tim rechts von mir auf einem sehr unbequem aussehenden Stuhl.

»Hey«, sagt er einfach nur.

Ich sage nichts. Ich nehme eine Bewegung in der anderen Ecke des Raumes wahr. Und da sitzt meine Mutter zusammengekauert in einem Sessel. Sie ist kreidebleich und zittert. Zum ersten Mal empfinde ich so etwas wie Zuneigung für sie. Sie hat sich anscheinend tatsächlich echte Sorgen um mich gemacht. Ich denke an das Letzte, woran ich mich erinnern kann. Ein großer, dunkler Schatten im Wasser und dann nichts mehr. Ich wende mich wieder Tim zu.

»Du warst das, oder?« Meine Stimme hört sich heiser an und mein Hals tut weh beim Sprechen. Tim nickt einfach.

»Wie?«, frage ich, zu müde um einen ganzen Satz zu formulieren.

Er atmet tief durch, dann beginnt er: »Ich hab bei euch angerufen, weil ich mit dir reden wollte, aber deine Mutter hat gesagt, du seist gerade heulend rausgerannt, und dass deine Ratte tot ist.«

Es versetzt mir einen kleinen Stich, als Tim es ausspricht. Auf dem Weg in den Park habe ich es zwar tausend Mal gedacht, aber nie ausgesprochen, dass Rodney tot ist.

»Ich war mir nicht sicher, wo du hingegangen bist, aber der Park war der einzige Ort, an dem ich suchen konnte, also bin ich dort hin«, erzählt er weiter. »Ich hab alles abgesucht, konnte dich aber nirgends finden. Ich wollte grade wieder nach Hause gehen, da hab ich dich von weitem auf der Brücke stehen sehen.« Er zögert, nicht sicher, ob er seine Erzählung an dieser Stelle beenden oder noch etwas sagen soll. »Und dann hast du dich einfach fallen lassen.«

Ich weiche seinem eindringlichen Blick aus und starre stattdessen meine schneeweiße Bettdecke an. Er war also der große, dunkle Schatten gewesen, er hatte mich aus dem Wasser gezogen. »Danke«, sage ich und sehe ihm dabei wieder in die Augen, damit er sieht, dass ich es ernst meine.

Jetzt guck er verwirrt. »Heißt das, du wolltest gar nicht …«

Ich sehe wieder weg. »Doch, wollte ich, aber nur im ersten Moment, weil alles auf einmal schief gelaufen ist, aber dann hab ich gemerkt, dass ich deshalb nicht gleich sterben will.« Ich sehe ihn schuldbewusst an. »Was hast du denen erzählt?«, frage ich und nicke in Richtung Tür, hinter der ich mindestens eine Krankenschwester vermute.

»Dass du gefallen bist«, flüstert er.

»Stimmt, das bin ich auch, aber wissen die auch, dass ich freiwillig gefallen bin?«

Er schüttelt den Kopf.

»Weiß sie es?«, frage ich nun und nicke dieses Mal in Richtung meiner Mutter.

»Ja«, sagt er, »warum?« Er sieht mich an. »Sie hat mich gebeten, es den Ärzten nicht zu erzählen.«

Ich sehe meine Mutter an, die meinen Blick erwidert. »Warum?«, frage ich Tim wieder.

»Ich weiß nicht, das musst du sie selbst fragen.«

Das werde ich wohl nie, denke ich und sehe dabei wieder zu meiner Mutter.

»Aber ich wollte noch mit dir reden, … über diese Sache im Park«, lenkt Tim meine Aufmerksamkeit wieder auf sich. Er verstummt. »Freunde?«, fragt er dann nach einer Weile unsicher.

»Nein«, sage ich, als mir plötzlich klar wird, dass dieses Gefühl, das ich habe, wenn ich ihn ansehe, etwas völlig anderes ist. Ich greife über die Bettdecke nach seiner Hand, die sich am Bettrand festhält. »Mehr als das.«

Ich bin andersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt