Kapitel 5

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Als ich aufwache, weiß ich zuerst nicht, wo ich bin, doch dann fällt mir alles wieder ein und ich überlege, was ich als nächstes tun soll. Rodney sitzt auf dem Karton und guckt mich an, als würde er dasselbe denken. Ich schaue auf meine Uhr. Zum Glück ist heute Samstag, sonst würde ich jetzt die Schule schwänzen. Ich stehe auf und alles tut mir weh. So muss sich ein Penner fühlen, denke ich und packe die Decke in den Rucksack. Ich fühle mich miefig und feucht und mir ist kalt. Jetzt wünsche ich mir, dass ich wieder nach Hause kann, aber ich weiß nicht wie. Mit Rodney werde ich nicht mehr ins Haus kommen. Doch plötzlich habe ich eine Idee. Ich setze mir Rodney auf die Schulter und nehme den Rucksack. Ich will zur nächsten Bushaltestelle, denn da ist so weit ich weiß ein Münztelefon. Ich muss überlegen, die Bushaltestelle an der Schule kann ich am schnellsten erreichen. Dieses Mal registriere ich die Umgebung um mich herum gar nicht. Ich bin den Weg in den letzten Tagen oder besser gesagt, Stunden, schon zu oft gegangen, als dass ich noch etwas Neues entdecken könnte. Eigentlich dachte ich immer, dass sei unmöglich, aber jetzt weiß ich, dass es das doch ist, denn in diesem Moment merke ich, dass ich vor dem Münztelefon stehe.

Ich krame meine allerletzten zwei Euro aus der Hosentasche und werfe sie in den Münzeinwurf. Ich nehme den Hörer ab und wähle unsere Telefonnummer. Das allbekannte Tuten erklingt. Erst einmal, dann zweimal … nach dem fünften Mal werde ich langsam nervös, aber dann wird auf der anderen Seite der Leitung der Hörer abgenommen und die Stimme meiner Mutter ertönt.

»Hallo?«

»Ähm, hallo…Mama

»Carolin, bist du das?«

»Wer nennt dich außer mir sonst noch alles Mama?«

»Wo bist du?«

»Das ist egal. Und ich werde auch nicht wieder nach Hause kommen, es sei denn, Rodney darf bleiben.«

»Rodney ist weg, Caro, ich hab ihn ins Tierheim gebracht, und da bleibt er auch. Ich kann mir eh nicht vorstellen, dass sie ihn so schnell wieder rausrücken würden. Ich hab mich nämlich erkundigt. Um ein Tier aus dem Tierheim aufnehmen zu können, brauchst du meine Unterschrift.«

Wenn sie wüsste, wie leicht es ist, an ihre Unterschrift zu kommen, würde sie den Mund sicher nicht so voll nehmen. »Das ist ja nicht dein Problem, außerdem: Sei dir da mal nicht so sicher, denn wenn das Tierheim diese Sache so ernst nehmen würde, wie hätte ich Rodney dann erst bekommen? Ach ja, und nenn mich nicht Caro, dazu hast du kein Recht.«

»Gut, na schön, wie du meinst, aber die Dinge haben sich in der Zwischenzeit vielleicht geändert, Carolin. Ich meine, wie lange hast du diese Ratte denn schon? Es kommt mir vor wie eine halbe Ewigkeit. Ich bin sicher, so leicht wie damals wird es jetzt nicht mehr sein.«

»Wenn du dir so sicher bist, wird es dir ja nichts ausmachen, meine Bedingung zu akzeptieren.«

»Also schön, Rodney darf bleiben, und jetzt komm nach Hause.«

»Gut, das ist alles, was ich wollte.«

Ich lege auf. Ich habe genau das erreicht, was ich erreichen musste. Meine Mutter wiegt sich in Sicherheit, dass es mir unmöglich ist, Rodney wiederzubekommen, und dadurch ist sie leichtsinnig geworden. Tatsache ist aber, dass ich Rodney schon längst wiederhabe, und davon weiß sie nichts. Das ist gut, denn jetzt kann ich wieder nach Hause, und Rodney auch.

Ich stehe vor unserer Wohnungstür – einen Moment zögere ich, dann drücke ich bewusst die Klingel. Rodney sitzt auf meiner Schulter, als Beweis, dass ich ihn doch wiederbekommen habe. Die Tür geht auf. Dort steht meine Mutter und atmet tief ein, aber nicht wieder aus. Sie hat Rodney gesehen. Sie will gleich etwas sagen, das sieht man ihr an, und eigentlich sollte ich mir anhören, was sie mir zu sagen hat, aber ich ertrage es in ihrer Gegenwart nicht eine Sekunde länger. Ich empfinde nur Hass für sie, nur Hass. Nach einem kurzen Moment, in dem ich einfach nur im Türrahmen stehe und nichts tue, rausche ich schnellen Schrittes an ihr vorbei. Als ich in meinem Zimmer bin, fühle ich mich schlecht. So etwas kenne ich von mir gar nicht. Normalerweise herrscht zwischen mir und meiner Mutter gegenseitige Abneigung – wenigstens eine Gemeinsamkeit. Aber jetzt zu ihr zu gehen, dazu bin ich zu feige und zu stolz. Ich spüre den Triumph über meine Mutter in mir auflodern und dazu kommen Hass und Verachtung ihr gegenüber. Sie ist ein kaltes, gefühlloses Wesen, das es nicht verdient, geliebt zu werden, weil sie nicht weiß, was Liebe ist. Es macht mir ein wenig Angst, wie ich über meine eigene Mutter denke, aber ich schüttle die Gedanken ab und rufe mir in Erinnerung, was sie mir angetan hat, und dann, aus irgendeinem unerfindlichen Grund, fange ich an zu weinen wie ein Baby. Ich bin so froh, dass mich keiner dabei sieht, außer Rodney natürlich. Ich schäme mich schon, vor mir selbst zu weinen, und noch weniger kann ich es ertragen, wenn mir dabei jemand zusieht, Rodney ausgenommen. So bald ich erst einmal angefangen habe, kann ich gar nicht wieder aufhören. Irgendwann schlafe ich ein und wache nicht vor dem Morgen auf.

Ich bin andersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt