Kapitel 6

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In dieser Nacht schlafe ich wie ein Stein und als ich aufwache, fühle ich mich auch wie einer. Es ist noch früh und ich habe das Gefühl, ich kann mich nicht bewegen, zu mindest nicht aus dem Bett. Ich bin müde, nicht durch zu wenig Schlaf, sondern durch zu viel Stress. Ich stehe trotzdem schon jetzt auf, denn ansonsten wird es nur von Minute zu Minute schwerer. Ich nehme mir frische Kleidung aus dem Schrank und gehe erst mal duschen, kalt. Nur so werde ich wach.

Sobald ich das getan habe, geht es mir besser. Ich nehme die Haarbürste vom Waschbeckenrand und kämme in harten Zügen das Wasser heraus. Manchmal wünsche ich mir, dass ich den ätzenden Braunton beim Duschen einfach mit rauswaschen könnte. Es ist nicht mal richtiges Braun oder Dunkelblond, es isteinfach … keine Farbe. Natürlich könnte ich mir die Haare färben, aber das traue ich mich dann doch nicht und außerdem würde es eh keinen interessieren, also ist es sinnlos, denn eigentlich ist es mir ja auch egal, wenn es allen anderen egal ist.

Ich föhne die Haare kurz an und schlüpfe in meine Klamotten. Als ich den Föhn zurück in die Schublade lege, finde ich einen schwarzen Kajal. Ich greife danach, starre ihn an und setze zögernd zu einem Versuch an, ihn zu benutzen. Ich versuche  krampfhaft, ihn möglichst ruhig zu halten. Ich bin ungeübt in solchen Dingen und steche mir das Ding volle Kanne ins Auge. Verärgert werfe ich den Kajal zurück in die Schublade und gehe aus dem Bad. Solchen Dingen konnte ich noch nie etwas abgewinnen und so wie es aussieht, wird es dabei auch bleiben.

*

In der Schule kursiert das Gerücht, dass wir bald einen neuen Schüler bekommen. Selbst ich hab davon gehört und dann muss wirklich etwas dran sein, denn normalerweise bekomme ich von niemandem auch nur irgendetwas zu hören. Damaris Höfer hat es angeblich von Frau Engelhart gehört, und das ist gut möglich, denn Damaris ist die Lehrerschleimerin schlechthin. Ich muss sagen, es ärgert mich ein wenig, dass ein solches Scheusal wie sie trotzdem Freunde hat und ich nicht, aber das ist meine eigene Entscheidung gewesen. Wäre ich nicht immer mit Absicht abweisend und schroff zu den Leuten, hätte ich mit Sicherheit Freunde, aber was will ich mit Leuten, die mir vorheucheln, sie seien meine Freunde, aber hinter meinem Rücken Lügengeschichten über mich verbreiten oder sich für mich schämen. Bis jetzt bin ich noch keinem Menschen begegnet, der so ist wie Rodney. Er ist mein treuster Freund und würde niemals schlecht von mir denken. Das sind die Eigenschaften, die einen wahren Freund ausmachen, nur leider gibt es wenige davon, die menschlich sind. Was neue Schüler angeht, kann ich die meisten nicht ausstehen – entweder sind sie voller Elan und ganz eifrig, so viele neue Freunde wie möglich zu finden und lassen einen dann wochenlang nicht Ruhe oder es gibt einen Grund dafür, dass sie die Schule gewechselt haben, und es handelt sich um menschliche Wracks, so wie ich eins bin. Das sind die harmloseren von beiden. Meistens lassen sie einen in Ruhe, weil sie ebenso ihre Zeit lieber mit sich selbst verbringen als mit anderen. Manchmal sind es aber auch einfach nur Vollidioten, die denken, du wärst ein Verbündeter, einer von ihnen. Sie denken, sie allein kennen die ganze Wahrheit und müssen die Welt vor dem Untergang retten. Ich für meinen Teil hoffe einfach nur – falls die Gerüchte stimmen –, dass er einer von denen ist, die mich in Ruhe lassen.

Am nächsten Tag in der ersten Stunde passiert es, Frau Engelhart hat den Klassenraum bereits aufgeschlossen, ist aber gleich darauf wieder verschwunden. Alle Mädchen sitzen schon unruhig auf ihren Stühlen und beten darum, dass er gut aussieht, alle Mädchen außer mir natürlich, denn ich bete dafür, dass er mir aus dem Weg geht.

Frau Engelhart betritt den Raum. Im Schlepptau unseren neuen Schüler. Und während die anderen Mädchen im Raum sich nicht mehr halten können und miteinander tuscheln, werfen die Jungs sich vielsagende Blicke zu. Sie wissen, nun sind sie erst mal abgeschrieben, denn selbst ich habe bemerkt, dass er nicht gerade hässlich ist. Frau Engelhart versucht, sich Gehör zu verschaffen in dem Gemurmel, das mittlerweile entstanden ist. Der Neue nutzt diese Gelegenheit, um jeden Einzelnen im Raum zu mustern. Ich beobachte, wie sein Blick von einem zum anderen wandert. Kurz bevor er bei mir angelangt ist, spricht Frau Engelhart ihn an und er blickt sich zu ihr um. »Tim, bitte such dir einen freien Platz und schreib dir den Stundenplan von deinem Sitznachbarn ab.«

Angespannt warte ich ab, was passiert, denn in diesem Klassenzimmer existieren gerade mal zwei freie Plätze, einer neben Sophie Martins und einer neben mir. Ich habe gute Chancen, denn sie ist die hübschere von uns beiden und das weiß sie. Voller Vorfreude sitzt sie auf ihrem Platz und grinst zu Tim rüber, alle anderen Mädchen werfen ihr neidische Blicke zu. Ich habe längst gemerkt, dass für mich nun keine Gefahr mehr besteht, und widme mich wieder den Kritzeleien auf meinem Block, die man vielleicht auch als Kunst bezeichnen kann, wenn man will. Immerhin ist Kunst auch eins der wenigen Fächer, in denen ich gut bin. Das Knarren eines Stuhls direkt neben mir lässt mich innehalten. Ich schaue neben mich und muss entsetzt feststellen, dass der Mistkerl gerade dabei ist, sich neben mich zu setzen. Ich glotze ihn an, als wäre er nicht ganz dicht (und das kann er auch nicht sein, denn er setzt sich freiwillig neben die Person, die ihn von allen in diesem Raum bis jetzt am wenigsten beachtet hat). Er lächelt mich an. Oh Mann, er KANN nicht ganz dicht sein! Es ist totenstill im Raum, alle starren mich an, Sophie wirft mir wütende Blicke zu. Na toll, jetzt habe ich einen Irren neben mir sitzen und Sophie ist sauer, weil sie selber neben dem Irren sitzen will. Immer noch entsetzt, aber auch verblüfft beobachte ich, wie er seine Sachen auf den Tisch legt. Ich starre ihn immer noch an, obwohl seine Sachen mittlerweile vor ihm auf dem Tisch liegen und er mich ansieht. Ich merke, dass es langsam unangenehm wird, doch ich starre weiter. Es besteht keinerlei Zweifel daran, dass er sich jetzt wünscht, er hätte sich doch lieber nicht neben mich gesetzt. So, wie ich ihn anstarre, muss er wirklich denken, ich hasse ihn und werde ihn umbringen, wenn er jetzt etwas sagt.

»Gibst du mir deinen Stundenplan, damit ich ihn abschreiben kann?«

Es vergehen noch ein paar wortlose Sekunden, bis ich langsam, ohne den Blick von ihm abzuwenden, nach meinem Block greife, den Stundenplan herausziehe und ihm das Blatt hinschiebe. Die Stille macht wieder dem gewohnten Geraschel und Gemurmel Platz und so bleibt es, bis es klingelt.

Ich bin andersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt