Kapitel 17

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Als die Ausstellung vorbei ist, wird es draußen schon dunkel. Meine Kunstsachen, die ich während der Woche in der Schule gelassen habe, nehme ich übers Wochenende mit nach Hause. Tim begleitet mich.

»Aber trotz allem hat es heute doch irgendwie Spaß gemacht«, meine ich, als wir das Schulgelände verlassen.

Tim nickt zustimmend. »Schade, dass es jetzt vorbei ist.«

Ich atme die kühle Abendluft ein. »Ja.«

Tim bleibt stehen. »Wann musst du zu Hause sein?«

Ich zucke mit den Schultern. »Keine Ahnung, ich schätze, ich hab noch Zeit.«

Ein Lächeln umspielt seine Lippen. »Gut, dann komm.«

Wir gehen denselben Weg, den ich von der Schule nach Hause nehme. Dann biegt Tim, wie ich schockiert feststellen muss, nicht nach rechts ab, sondern geht geradeaus weiter und steuert den Park an. Ich bleibe stehen. Er dreht sich zu mir um.

»Was ist, hast du Angst im Dunkeln?«, fragt er scherzend.

»Quatsch«, sage ich und überwinde die Entfernung zwischen uns mit zwei schnellen, zielstrebigen Schritten. Als wir an der Brücke vorbeigehen, bin ich etwas angespannt, aber wir gehen zügig weiter, sodass sich mein Unbehagen schnell wieder verflüchtigt. Wir setzen uns unter die Weide, unter der ich im Sommer immer saß, wenn ich mit Rodney unterwegs war. Das Gras ist erstaunlich trocken, und Laub liegt auch noch keins, aber es ist relativ kühl für Mitte September.

»Ganz schön kalt oder?«, fragt Tim.

Ich sehe ihn argwöhnisch an, mit einer Vorahnung, was das zu bedeuten hat. »Wag es bloß nicht, mir deine Jacke zu geben, du hast gesagt, es ist kalt.«

Er lacht, als hätte er genau das erwartet.

»Spiel mir was vor!«, wechsle ich das Thema und deute auf seine Gitarre.

Er sieht mich an. »Gut, aber nur, wenn du was malst«, sagt er und deutet auf den Block, den ich zusammen mit meiner Schultasche gegen den Stamm gelehnt habe.

Ich rümpfe die Nase. »Muss ich?«

»Ja«, sagt er bestimmt.

»Ok, aber zuerst spielst du«, dränge ich.

Er grinst und greift nach seiner Gitarre. Als die ersten Töne erklingen, erkenne ich es sofort – Wonderwall. Es kommt mir vor, als wäre es das Original. Oder sogar besser. Es verschafft mir eine Gänsehaut. Wie gebannt lausche ich den sanften Klängen der Gitarre. Als das Lied zu Ende ist, bin ich nicht im Stande, mehr zu sagen außer »Wow.« Mit großer Geste verdreht er die Augen und versucht, mich zu imitieren, als ich dasselbe getan habe, nachdem er meine Bilder mit denselben Worten kommentiert hatte. Ich lache. »Wenn du dazu noch gesungen hättest, hätte ich eine kreischende Mädchenmenge hinter dem nächsten Baum erwartet«, spreche ich die Gedanken aus, die mir auch schon in der ersten Musikstunde mit ihm in den Sinn gekommen waren. Er stimmt in mein Lachen ein.

»Tut mir leid, aber ich bin ein extrem schlechter Sänger.«

Wir lächeln immer noch stumm.

»Jetzt bist du dran«, sagt er.

»Aber es ist viel zu dunkel«, versuche ich eine Ausrede zu finden. Er greift in seine Hosentasche und löst etwas von seinem Schlüsselbund.

»Hier!«, sagt er und wirft es mir zu.

Es ist eine dieser kleinen Taschenlampen, die die meisten benutzen, um im Dunkeln ihr Auto aufzuschließen, und von denen ich ebenfalls eine an meinem Schlüsselbund mit mir herumtrage. Ich schalte sie an und verfluche im Stillen den Erfinder, während ich einen Bleistift aus meiner Tasche nehme und mir den Block auf den Schoß lege. »Komm her, du musst die Taschenlampe halten«, sage ich und bedeute ihm, sich neben mich zu setzen. Er nimmt sie mir aus der Hand und richtet sie auf den Block. Einen Moment überlege ich, dann sehe ich Tim an und grinse. Ich setze den Stift aufs Papier und beginne meine Zeichnung.

Ich zeichne den Sommer, wie es war. Ich zeichne ein Mädchen unter die Weide, unter der wir sitzen. Sie sitzt im Gras, den Rücken an den Stamm gelehnt und die Knie an die Brust gezogen, Ihre Jeans hat Löcher und ihre Turnschuhe sind alt und abgetragen. Ihre Haare fallen ihr auf einer Seite über die Schulter, auf der anderen sitzt eine Ratte. Sie hat die Augen geschlossen damit man die Hoffnungslosigkeit ihrer Augen nicht sieht.

Als ich fertig bin, sehe ich zu Tim hoch, der, wie es scheint, die ganze Zeit über nicht das Bild sonder mich angesehen hat. Ich sehe in seine blauen Augen und kann den Moment nicht ertragen, weil er in meine grauen sieht. Sein Blick ist zu intensiv, um sich ihm zu entziehen. Es kommt mir vor, als würden wir uns eine Ewigkeit so ansehen. Ich öffne den Mund leicht, um etwas zu sagen, traue mich aber nicht, die Stille zu durchbrechen. Unsere Gesichter sind nur wenige Zentimeter von einander entfernt, und bevor ich realisiere, was passiert, küsst er mich. Einen Moment bleibt die Zeit stehen und nur zeitverzögert stoße ich ihn von mir weg.

»Hast du sie noch alle???« Plötzlich stehen wir beide, ohne dass ich mich daran erinnern kann, dass einer von uns aufgestanden ist.

»Ich dachte, wir wären Freunde!« Er sieht aus, als hätte ich ihm ins Gesicht geschlagen, dabei fühle ich mich, als hätte er mir ins Gesicht geschlagen. Das war definitiv nicht das, womit ich gerechnet habe. Er sagt nichts. Ich halte es nicht aus, ich halte es nicht aus, dass er es kaputt gemacht hat. Ich dachte immer ich bin diejenige, die unsere Freundschaft eines Tages zerstört. Ohne dass ich es wahrnehme, greife ich bereits nach meinem Rucksack und setze ihn mir auf den Rücken. Ich verschwinde von hier, begreife ich plötzlich. Ich gehe. Zum Glück liegt die Brücke in der anderen Richtung, denn ich bin sicher, würde ich jetzt an ihr stehen bleiben, würde ich tatsächlich springen.

Ich bin andersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt