Kapitel 2

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Ich wache auf. Um mich herum ist es dunkel und still. Ich bin durstig durch die stickige Luft, die in meinem Zimmer herrscht. Ich werfe die Bettdecke zurück und stehe langsam auf. Im Dunkeln taste ich mich zu meinem Fenster und öffne es. Ich spüre eine leichte Brise, die mir wohltuend ins Gesicht weht, und auch Rodney streckt in seinem Käfig freudig die kleine Nase in die Luft. Ein stummes Lächeln huscht über meine Lippen. Mit den Ellenbogen stütze ich mich auf die schmale Fensterbank und sehe zu, wie es hell wird. Überrascht stelle ich fest, wie schnell die Sonne aufgeht. Als ich auf die Uhr schaue, ist es schon fast halb acht. Ich zwinge mich dazu, mich aus meiner Starre zu lösen und ins Badezimmer zu gehen. Dort angekommen, trinke ich gierig zwei Gläser Wasser. Ich schaue in den Spiegel. Befremdet sehe ich mir in die blassgrauen Augen, die dazu verdammt sind, traurig in die Welt zu blicken. Schnell wende ich den Blick wieder ab und gehe zurück in mein Zimmer. Ich ziehe an, was ich zufällig aus dem Schrank ziehe. Erst als ich mein Zimmer schon wieder verlassen will, merke ich, dass ich das T-Shirt falschherum angezogen habe. Zuerst will ich es so lassen, weil es ja im Prinzip eh egal ist, aber dann überlege ich es mir bei dem Gedanken an meine Mitschüler, die mich schamlos auslachen würden, doch anders und ziehe es schnell richtigherum an. Prüfend schaue ich noch einmal in den Spiegel, um mich zu vergewissern, dass ich diesmal alles richtig gemacht habe. Ja dieses Mal schon. Ich nehme meinen Rucksack vom Haken, verabschiede mich von Rodney und gehe aus dem Zimmer. Ohne ein weiteres Wort verlasse ich die Wohnung. Meine Mutter würde es nur stören, wenn ich sie vor dem Mittag wecke, also gehe ich einfach. Als die Haustür hinter mir ins Schloss fällt, wünsche ich mir, dass die Schule schon vorbei ist. Aber das ist sie nicht, also reiße ich mich zusammen und gehe los. Die erste Ampel, über die mein Weg führt, ist rot. Natürlich! Ich bleibe stehen und sofort wandern meine Gedanken weg von der Ampel, weg von der Schule, weg von zu Hause. Als die Ampel auf grün schaltet, merke ich es gar nicht, bis mich eine alte Dame freundlich darauf hinweist. Verwirrt schaue ich sie an. Sie hat einen kleinen Pudel an der Leine, der kleine rosa Schleifchen trägt und mich böse anknurrt.

»Sei ruhig Betsy«, schimpft die alte Frau.  »Sie tut nichts, sie mag nur keine Fremden, weißt du.«

»Aha, … ach so … na dann«, murmle ich und gehe schnell weiter.

Die alte Dame kommt mir hinterher und ich gehe noch etwas schneller. Nun bin ich im Park. In dem Park mit der Brücke. Ich bin spät dran, also versuche ich, mich nicht wie sonst dazu hinreißen zu lassen, aber als ich mitten auf der Brücke stehe, kann ich trotz des Zeitdrucks nicht widerstehen. Ich will nicht stehen bleiben, aber aus irgendeinem unerfindlichen Grund tue ich es doch jedes Mal und versinke in Gedanken, während ich auf die glatte Wasseroberfläche starre, die sich wenige Meter unter mir befindet. Ich beuge mich tief über das Geländer. Wenn ich springe, habe ich es hinter mir, dann kann ich meine ganzen Sorgen endlich vergessen. Aber was ist mit Rodney und mit meiner Mutter? Wäre sie traurig oder enttäuscht oder wäre es ihr egal? Bestimmt würde sie Rodney weggeben. Der arme Rodney würde mich sicher schrecklich vermissen. Und wer weiß, was die Leute, zu denen er dann käme, alles mit ihm machen würden? Nein, ich kann Rodney nicht allein lassen. Ich atme tief ein und wieder aus. Ich mache einen Schritt nach hinten und dann renne ich los. Ich renne so schnell, dass ich schon nach kurzer Zeit nicht mehr kann, aber ich renne weiter. Als ich endlich an der Kreuzung bin, werde ich etwas langsamer, bis ich schließlich keuchend stehen bleibe. Heute war ich tatsächlich kurz davor, über das Geländer zu klettern. Das macht mir irgendwie Angst. Morgen werde ich einen großen Umweg um diese Brücke machen, das steht fest, aber jetzt muss ich erst einmal auf dem schnellstmöglichen Weg zur Schule kommen. Ich schaue nach vorne. Als die Ampel grün wird, renne ich wieder los, über die Kreuzung, um die rechte Straßenecke, und dann nur noch grade aus. Schon wieder verlassen mich meine Kräfte, aber jetzt bin ich gleich da. Nur noch …WAMM. Ich liege auf dem Boden. Anscheinend bin ich über irgendwas gestolpert, wahrscheinlich über meine eigenen Füße. Schnell stehe ich wieder auf, bevor irgendwo jemand anfängt zu lachen. Ich schaue mich um, ich kann niemanden sehen oder hören. Ich klopfe mir den Dreck von den Knien und gehe schnell weiter. Als ich das Grundstück der Schule betrete, wünsche ich mir wieder, dass alles schon vorbei ist. In den Gängen der Schule ist es ganz still, der Unterricht hat schon begonnen. Vor den Klassenräumen ist niemand. Aus dem ein oder anderen Raum hört man Schüler grölen und Lehrer schreien. Aber in den meisten ist es ruhig. Als ich vor meinem Klassenraum stehen bleibe, halte ich inne, es ist nichts zu hören. Leise drücke ich die Türklinke herunter und öffne die Tür einen Spalt. Verdammt. Ich will die Tür schon wieder zuschlagen und wegrennen, denn durch den Türspalt sehe ich, wie meine Englischlehrerin Frau Engelhart die letzte Klassenarbeit zurückgibt. Aber dann kommt es doch anders, Frau Engelhart dreht sich zur Tür um und sieht mich. Dann, nach kurzem Zögern sagt sie:  »Ah, wie schön, dass du dich auch noch entschieden hast, zum Unterricht zu erscheinen, Carolin.«

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