Kapitel 12

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Als ich in den Kunstraum platze, ist Tims Stuhl leer. Vielleicht ist er krank?, denke ich hoffnungsvoll. Doch nur wenige Minuten, nachdem ich mich gesetzt habe und meine Kunstsachen vor mir ausbreite, geht die Tür auf. Da hab ich mich wohl zu früh gefreut. Tim entschuldigt sich für seine Verspätung mit der brillantesten Ausrede, die ich je gehört habe. Er sagt, er hätte den Bus verpasst, weil er einem kleinen Mädchen helfen musste, das vom Fahrrad gefallen war. Wirklich beeindruckend! Mir wäre so spontan höchstens eingefallen: Mein Wecker ist kaputt  oder mein Fahrrad hatte einen Platten, was sehr weit her geholt wäre, weil ich zurzeit nicht mal ein Fahrrad besitze. Als er sich setzt, frage ich ihn: »Und wie geht’s dem kleinen Mädchen?«

Er schnaubt verächtlich. »Wow, du redest wieder mit mir, und wie es aussieht, glaubst du mir nicht.«

Ich rümpfe die Nase. »Nein, nicht wirklich!«

Unsere Aufgabe für die Stunde ist es, ein Porträt unseres Gegenübers zu zeichnen, was mir sehr schwer fällt, da ich es nicht ertragen kann, ihm in die Augen zu sehen. Während ich gerade versuche, aus dem Gedächtnis heraus seine Nase aufs Blatt zu bringen, sagt er:

»Okay, du hattest recht, ich kenn dich überhaupt nicht, also erzähl mir was über dich. Was machst du so in deiner Freizeit? Hast du ein bestimmtes Hobby oder so was?«

Ich runzle die Stirn. Ja, was mache ich eigentlich den ganzen Tag, was sind meine Hobbys, habe ich überhaupt welche? »Ich hab keine Hobbys!«, antworte ich.

»Komm schon«, sagt er, »du musst doch ein Hobby haben, jeder hat ein Hobby!«

Ich funkle ihn über meinen Zeichenblock hinweg böse an. »Charmante Art und Weise, mich darauf hinzuweisen, dass ich nichts aus meinem Leben mache, danke!«

»Du weißt, dass ich das überhaupt nicht gemeint habe. Ok, was Leichtes: Was ist deine Lieblingsfarbe?«

Ich überlege, dann lasse ich meinen Blick über die Farben in meinem Tuschkasten schweifen. »Braun«, sage ich.

»Braun?«, fragt er erstaunt. »Niemand mag braun.«

Wieder starre ich ihn böse an. »Vielleicht ist das ja der Grund, warum ich braun mag.«

Ein Lächeln stiehlt sich auf sein Gesicht. »Ja«, sagt er, »das ist auch der Grund, warum ich dich mag.«

Meine Empörung darüber verberge ich vor ihm und sage ihm, dass es mich beim Zeichnen stört, wenn er ständig so blöd grinst. Das macht das Grinsen allerdings noch schlimmer und ich muss mich sehr am Riemen reißen, damit ich mich nicht davon anstecken lasse.

»Wie ist es mit Tieren, magst du Tiere?«, fragt er mich als nächstes.

Ich zucke mit den Schultern. »Nicht besonders.«

Er guckt verwirrt. »Aber du hast doch eine Ratte, oder?«

»Jah«, sage ich, „Rodney! Aber Rodney ist ganz anders als andere Tiere, Hunde zum Beispiel – die hasse ich, genauso wie Katzen. Aber Fische sind okay.

»Schon wieder lacht er. »Du scheinst ja regelrecht auf die Dinge abzufahren, die sonst keiner mag«, zieht er mich auf.

»Das würde zumindest erklären, warum ich dich nicht mag«, stelle ich nüchtern fest.

Während Tim mich weiter über mein Privatleben ausquetscht, wobei ich versuche, den unangenehmen Fragen gekonnt auszuweichen, indem ich Gegenfragen an ihn stelle, gesellt sich auf einmal unsere Kunstlehrerin zu mir an den Tisch. »Carolin, ich habe neulich deine Kunstmappe durchgesehen und ich habe mir überlegt – das heißt natürlich nur, wenn du damit einverstanden bist –, ob wir nicht vielleicht ein paar deiner Bilder bei der Ausstellung in drei Wochen aufhängen können. Einige davon haben mich förmlich umgehauen, ich fände es schade, wenn wir sie der Öffentlichkeit vorenthalten würden. Du hast ein unglaubliches Talent, Carolin.«

Eine mir unbekannte Wärme breitet sich in mir aus und ich habe zum ersten Mal das Gefühl, etwas richtig gemacht zu haben. »Du hast recht«, sage ich zu Tim, nachdem Frau Schweighöfer wieder gegangen ist, »ich habe doch ein Hobby.«

Nachdem ich ernüchtert feststellen musste, dass Tim mich auf seinem Porträt in einen rundköpfigen Troll mit wuscheligen Haaren verwandelt hat, lasse ich mein Porträt von ihm, das neben seiner Kritzelei locker mit der Mona Lisa mithalten könnte, ganz unauffällig unter den Tisch gleiten, sodass er es gar nicht erst zu Gesicht bekommt. In der großen Pause lasse ich es sogar zu, dass er mir beim Auswählen der Bilder hilft, die Frau Schweighöfer gerne aushängen möchte. Immer wenn er eins der Bilder betrachtet und einen anerkennenden oder bewundernden Laut wie Wow oder Wahnsinn ausstößt, verdrehe ich die Augen und lache dann peinlich berührt. Normalerweise wäre es mir ziemlich unangenehm, dass er hier, während wir meine Bilder durchwühlen, einen so tiefen Einblick in meine Privatsphäre bekommt, aber ich bin irgendwie viel zu froh, dass ich doch nicht alles kaputt gemacht habe und wir doch noch Freunde sein können, denn ich habe erkannt, dass es Details wie das Zeichnen in meiner Persönlichkeit gibt, für die ich mich nicht schämen muss – ganz im Gegenteil, im Grunde kann ich sogar stolz darauf sein.

Ich bin andersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt