Kapitel 3

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Ich bin zu Hause. Ich bin müde und es hat mich viel Überwindung gekostet, überhaupt nach Hause zu kommen. Aber schließlich wollte ich Rodney wiedersehen. Wie ich die Unterschrift meiner Mutter unter meine Englischarbeit kriege, weiß ich noch nicht. Als ich ins Wohnzimmer komme, sitzt meine Mutter mit einer Bierflasche in der Hand auf dem Sofa vor ihr auf dem Tisch mindestens zwölf weitere Flaschen, darunter auch ein, zwei mit Wodka. Dass sie manchmal am helllichten Tag besoffen ist, bin ich gewohnt. – Wenn man den ganzen Tag nichts zu tun hat … »Und, wie betrunken bist du diesmal?«, frage ich, was eigentlich unnötig ist, in Anbetracht der ganzen Flaschen. Dann fällt mir die Englischarbeit wieder ein und ich sehe meine Chance. Ich komme mir etwas schäbig vor, dass ich die Situation so schamlos ausnutze, aber sie ist selbst schuld, wenn sie sich am helllichten Tag betrinkt. Ich stelle die Tasche vor mir ab und ziehe die Arbeit und eine Stift aus der Tasche. »Ach Mama, unterschreibst du das mal bitte kurz?« Ich schiebe die Flaschen auf dem Tisch zur Seite und lege das Blatt vor sie hin. Ohne wirklich zu wissen, was sie tut, nimmt sie mir den Stift aus der Hand und unterschreibt wie selbstverständlich meine Arbeit. Das ist gut zu wissen! Falls ich also irgendwann den Drang verspüren sollte, von hier zu verschwinden (was mir sehr realistisch erscheint), weiß ich, wie ich an Geld komme. Sie setzt ihren Namen direkt unter die Fünf ohne sich im Geringsten bewusst zu sein, was das bedeutet.                            » Danke.« Ich nehme die Arbeit vom Tisch und verschwinde mit meiner Tasche in meinem Zimmer. Ich hätte nicht gedacht, dass es so einfach sein würde, an ihre Unterschrift zu kommen, aber der Versuch hat sich gelohnt. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird sie morgen verkatert aufwachen, schreckliche Kopfschmerzen haben und sich an nichts mehr erinnern.

Rodney freut sich natürlich unheimlich, mich zu sehen, und läuft unruhig im Käfig auf und ab. Schnell lege ich alles ab, was ich bei mir trage, und öffne den Käfig. Die Arbeit fällt dabei achtlos zu Boden. Rodney klettert aus dem Käfig und gibt mir zur Begrüßung einen Stupser gegen die Nase. Er lässt sich auf meiner Schulter nieder und ich überlege, ob Rodney und ich nach draußen gehen sollten, um meiner Mutter nicht in die Quere zu kommen. Ich öffne leise die Tür. Das klappt natürlich nicht, weil sie unheimlich quietscht. Rodney tänzelt wild auf meiner Schulter herum, so aufgeregt ist er. Meine Mutter schläft und ich hoffe, dass es zumindest so bleibt, bis ich die Tür hinter mir geschlossen habe. Schon bin ich bei der Haustür und habe sie auch schon geöffnet, aber ich werfe noch einen letzten Blick auf das erbärmliche Szenario, das sich in unserem Wohnzimmer abspielt. Meine Mutter liegt schnarchend und sabbernd auf dem Sofa, neben ihr auf dem Boden die halbvolle Bierflasche von vorhin. Wenn jemand anders außer Rodney das sehen könnte, würde ich mich für meine Mutter schämen, das gebe ich offen zu, denn eigentlich müsste sie die Vernünftigere von uns beiden sein. Ich drehe mich um und schließe leise die Tür hinter mir. Was auf der anderen Seite passiert, nachdem ich sie zu mache, weiß ich nicht, aber jetzt ist es egal, ich bin draußen.

Das erste Mal seit langem bin ich wieder froh, draußen anstatt drinnen zu sein. Auch Rodney genießt es. Es ist schon etwas länger her, seit er das letzte Mal Frischluft geschnuppert hat, und er ist so klug, es so gut es geht auszunutzen. Es ist sehr windig und so sucht er Schutz zwischen meinen Haaren. Da ich nicht weiß, wohin ich sonst gehen soll, und auch keine allzu große Lust auf einen langen Fußmarsch habe, gehe ich mit Rodney in den Park, aber nicht in die Nordhälfte, wo die Brücke ist, sondern in die Südhälfte. Dort stehen viele Bäume und ein paar Parkbänke und es ist dort schöner als im restlichen Park. Und es ist windgeschützt durch die vielen Bäume. Aber auch dort sieht man nur selten jemanden. Ich setze mich auf eine abgelegene Bank, die unter zwei Eichen steht. Kaum hat mein Hintern die Bank berührt, hüpft Rodney meine Schulter hinunter, von der Bank und jagt vergnügt durchs Gras. Erst als er eine Krähe aufkreischen hört, hält er inne und kommt zu mir zurückgeflitzt. Ich weiß nicht, ob nicht jeder Mensch von seinem Tier dasselbe denkt wie ich von Rodney, aber für mich ist er einzigartig, und was noch viel wichtiger ist – der beste Freund, den es gibt. Ich bin mir sicher, dass es wirklich so ist, aber das denkt wahrscheinlich auch jeder Mensch, der einen Hund oder eine Katze hat. Ich kenne nur wenige Leute, um nicht zu sagen gar keine, die eine Ratte als Haustier halten, aber ich wette, dass Rodney eher zu den klügeren dieser Tiere gehört. Mit einem Satz ist er wieder auf der Bank und schnuppert mir entgegen. Kurze Zeit später klettert er auf meine Schulter und rollt sich zusammen. Lange Zeit bleiben wir so dort auf der Parkbank sitzen, doch irgendwann wird es dunkel und ich beschließe schweren Herzens, nach Hause zu gehen.

Ich bin andersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt