Es ist erstaunlich, wie lange ich gebraucht habe, um zu erkennen, dass mein Talent zu zeichnen, etwas Besonderes ist, aber umso erstaunlicher ist es, dass ich schon nach kurzer Zeit nicht mehr weiß, wie es ohne diese Erkenntnis war. Es hat etwas verändert, es hat mir bewusst gemacht, das ich etwas kann, was mich besonders macht, ja, es macht mich anders, aber im positiven Sinne und es verschafft mir die Möglichkeit, es in die Welt zu schreien. Es hat in mir den Drang geweckt, es allen zu zeigen. Es gibt mir die Möglichkeit, es ihnen so zu zeigen, dass sie es verstehen, und das macht mich so glücklich wie noch nie etwas zuvor.
Nachdem Tim und ich mit dem Sortieren der Bilder fertig waren, habe ich meine gesamten Malsachen mitgenommen. Und genau die liegen jetzt ausgebreitet vor mir auf dem Boden. Ich sitze tatsächlich in meinem Zimmer und male. Das habe ich noch nie gemacht. Rodney ist ganz fasziniert von den Farben und ich muss ihn immer wieder daran hindern, das Tuschwasser zu trinken.
Die Farben und Linien auf meinem Bild verlaufen sich zu einer hellen Gestalt, einer Frau. Sie steht, dem Betrachter den Rücken zugewandt, auf einer schwach beschienenen Lichtung. In der rechten Hand hält sie einen Strauß halb verwelkter Margeriten. Eine Spur aus zu Boden gefallenen Blüten, liegt hinter ihr auf dem Weg. Sie schaut nach oben, über die Bäume hinweg, die die Lichtung umgeben. Die Sonnenstrahlen, die durch das Blätterdach fallen, umspielen ihre zierliche Gestalt und ihr blondes Haar schimmert golden.
Was wollte der Künstler mit diesem Werk zum Ausdruck bringen?, schießt mir plötzlich die Frage meiner Kunstlehrerin durch den Kopf. Und ich habe keine Ahnung, was meine Antwort darauf wäre. Ich wette, das ist der Grund, warum kein Künstler verrät, was er mit seinen Bildern sagen will. Nämlich weil er es selbst nicht weiß. Oder weil er nicht weiß, wie er es erklären soll.
*
Am nächsten Mittwoch bittet mich Frau Schweighöfer, nach dem Kunstunterricht noch da zu bleiben. Auf ihrem Pult liegt ein gigantischer Stapel Kunstprojekte. Ein Stapel meiner Kunstprojekte, wie ich bemerke. Wie es aussieht, hat sie meine gesamten Werke seit der fünften Klasse zusammengetragen, einige davon sind sogar auf Leinwände gezeichnet. „Du musst ein Wunderkind sein, Carolin“, begrüßt sie mich, als ich zu ihr an den Tisch trete. »Ich habe mir die Mühe gemacht, ein paar der älteren Bilder zusammenzusuchen, und sieh dir das hier an“, sie hält mir ein Bild hin, das ich in der sechsten Klasse gemalt habe.
Eine Frau im Profil. Um sie herum ist es stockdunkel, über ihren Hals ranken sich dornige Rosen hoch zu ihrer linken Wange. Die Dornen stechen sie, hinterlassen Schrammen auf ihrer blassen Haut, verfangen sich in ihren dunklen Haaren und lassen sie bluten. Sie schaut in einen Spiegel, doch ihr Spiegelbild hat den Blick gesenkt und eine einzelne Träne tropft von ihrer Wange auf die Rose in ihrer Hand.
Die Aufgabenstellung dieses Bildes war lediglich gewesen, eine Spiegelung hineinzubauen, und das hatte ich getan. Allerdings war es der Meinung meines damaligen Kunstlehrers nach keine richtige Spiegelung, da die Person im Spiegel etwas ganz anderes tat als die echte. Deshalb hatte er mir nur eine Vier plus dafür geben können. »Als du dieses Bild gemalt hast warst du gerade mal dreizehn«, reißt Frau Schweighöfer mich aus meinen Gedanken, »und es ist einfach perfekt – es gibt kein anderes Wort, um dein Talent besser zu beschreiben – dieses Bild ist perfekt!« Ich sehe hoch in ihr rundes Gesicht und sie lächelt mich überglücklich an. Glücklich. Das war ich nicht, als ich dieses Bild gezeichnet hatte. Es war der Tag, an dem meine Mutter meinen Geburtstag vergessen und mich ohne Frühstück in die Schule geschickt hatte. Das liegt jetzt auf den Tag genau 4 Jahre zurück, denn heute ist mein Geburtstag, und ich bin froh, dass meine Mutter ihn auch dieses Mal vergessen hat. Ich zeige ein müdes Lächeln und betrachte wieder das Bild in den Händen meiner Kunstlehrerin. »Ja«, denke ich bitter, es ist perfekt.
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Ich bin anders
Teen FictionCarolin ist unzufrieden. Nie klappt etwas in ihrem Leben, und keiner außer ihrer Ratte Rodney scheint sie zu verstehen. In der Schule versucht sie sich, trotz der ständigen Tyrannei der Lehrer irgendwie durchzuschlagen, doch als sie unfreiwilligerwe...