Warum glaubt mir keiner?

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Violet öffnet die Tür zur Turnhalle und sofort schlägt ihr warme, stickige, verbrauchte Luft entgegen. Ein willkommener Kontrast zu der Kälte draußen. Violet legt ihren neuen warmen Wollmantel auf eine Bank und stellt sich zu ein paar Kindern in ihrem Alter. Ein braunhaariges Mädchen, das auch in ihrer Klasse ist, bemerkt sie zuerst und mustert Violet abschätzig. ,,Was willst du denn hier?",fragt sie mit zusammengekniffenen Augen. Jetzt werden auch die anderen auf Violet aufmerksam. ,,Ja, Sarah hat recht. Du gehörst nicht zu uns. Also verschwinde!",meint ein Junge. Violet dreht sich von den Jugendlichen weg und ihr treten Tränen in die Augen. Sie will doch nur dazugehören. Deswegen hat sie sich auch den neuen Wollmantel gekauft. Violet schnappt sich ihren Mantel und rennt aufs Deck. Die Tränen fließen nun in Bächen über ihre Wangen. Sie stellt sich an die Reling und blickt aufs Meer hinaus. Auf einmal hört sie einen Schrei: ,,Eisberg! Eisberg voraus!" Aber es ist schon zu spät. Die Titanic rammt den Eisberg und Eisbrocken fallen aufs Deck. Das ganze Schiff bebt und Violet stolpert erschrocken zurück. Dabei tritt sie einer Frau aus Versehen auf die neuen teuren Schuhe. Sie dreht sich zu der Frau um. ,,Pass'doch auf, Mädchen! Meine neuen Designerschuhe!",zetert die Frau. ,,Es tut mir ja wirklich leid, aber kriegen Sie eigentlich nichts mit? Die Titanic hat gerade einen Eisberg gerammt!",ruft Violet. ,,Jetzt beruhig' dich mal! Es wird nichts passieren! Die Titanic ist unsinkbar!",sagt die junge Frau. Violet atmet einmal tief durch, aber sie wird den Gedanken nicht los, dass diese Nacht noch in einer Katastrophe enden wird. Sie geht zu ihrer Familie in den luxuriösen Speisesaal der ersten Klasse und lässt sich auf einen Stuhl neben ihrer Mutter fallen. ,,Violet! Da bist du ja endlich!",sagt ihr Vater. ,,Wo warst du denn?" ,,Ich war ein bisschen in der Turnhalle. Aber das ist total nebensächlich. Die Titanic hat einen Eisberg gerammt!",sagt Violet aufgeregt und laut. Ein paar andere Passagiere drehen sich zu ihr um und schütteln missbilligend den Kopf. ,,Erzähl doch keinen Blödsinn, Violet. Dein Bruder bekommt heute Nacht noch Albträume",sagt Violets Mutter. Sie wirft ihrer Tochter einen bösen Blick zu. Dabei weiß sie genau, dass ihre Tochter die Wahrheit sagt, sie will es nur nicht zugeben. Violet springt auf und ihr Stuhl fällt nach hinten um. ,,Habt ihr denn nichts gespürt? Das ganze Schiff hat gebebt!",schreit sie aufgebracht. Sie rennt aus dem Speisesaal und die Treppe zum Deck hoch. Auf halbem Wege holt ihr Bruder sie ein. ,,Also, ich glaube dir",sagt er und greift nach der Hand seiner Schwester. ,,Danke, Leo",sagt Violet. ,,Komm, wir gehen zur Brücke und zum Captain." Violet und Leo machen sich auf den Weg zur Brücke, einem Ort, an dem sie eigentlich nichts zu suchen haben. Zögerlich, aber dennoch mit Selbstbewusstsein, laufen sie auf der Brücke entlang. Sie haben Angst, dass sie entdeckt werden, aber sie wollen wissen, wie es weitergeht. Die beiden steuern auf den Captain zu, bleiben aber stehen, als sie sehen, dass er sich mit jemandem unterhält. ,,Das ist der Ingenieur der Titanic. Lass uns ein bisschen näher ran gehen, damit wir verstehen, was sie sagen",flüstert Violet. Leo und sie schleichen ein Bisschen näher an die beiden Männer heran und lauschen. ,,Ich habe Berechnungen angestellt",sagt der eine Mann, der Ingenieur. ,,Die Titanic wird vermutlich in ein bis zwei Stunden untergehen. Fünf Abteilungen sind bereits vollgelaufen. Mit vier vollgelaufenen Abteilungen könnte sie sich noch über Wasser halten, aber mit fünf nicht. Sie wird auf jeden Fall sinken. Der Eisberg hat die Metallwand genau an der Stelle eingedrückt, an der das Feuer im Maschinenraum das Metall beschädigt hat. Wir hätten die Leute nicht auf dieses Schiff lassen dürfen oder sie zumindest warnen müssen." Violets Augen weiten sich vor Entsetzen und ihr Herz fängt wie wild an zu schlagen. Angst macht sich in ihr breit, erfüllt sie von innen und lähmt sie fast vollständig. Die Titanic wird untergehen. Dieser unsinkbare Ozeankoloss wird untergehen. ,,Violet? Werden wir sterben?",fragt Leo. Seine Stimme ist angsterfüllt und zittert. Violet kniet sich vor ihrem Bruder auf den Boden und legt ihm die Hände auf die Schultern. ,,Wir kommen hier raus, Leo. Lebend",sagt sie. Sie versucht, besonders mutig zu klingen und die Furcht in ihrer Stimme zu verbergen. Dabei schließt sich die Angst wie eine kalte Faust um ihr Herz. ,,Ich sehe es dir doch an. Du befürchtest, dass wir sterben",flüstert Leo. ,,Das ist doch Blödsinn. Wir kommen hier raus",sagt Violet energisch. ,,Aber...",fängt Leo an. Violets Hand landet mit einem dumpfen Klatschen auf der Wange ihres sechsjährigen Bruders. ,,Jetzt hör doch auf! Wir kommen hier schon irgendwie raus!",schreit Violet nun. Leo treten Tränen in die Augen und er dreht sich von seiner Schwester weg. ,,Ich hasse dich!",sagt er und rennt davon. ,,Leo! Leo, warte!",ruft Violet ihm hinterher, aber er bleibt nicht stehen und dreht sich auch nicht um. Violet lässt sich nun ganz auf den Boden sinken und legt den Kopf auf ihre Knie. Tränen laufen ihr übers Gesicht. Ein paar Minuten sitzt sie so da, bis ihr siedend heiß etwas einfällt. Ihr Bruder! Das Schiff geht unter und er ist irgendwo hingelaufen! Er kann wirklich überall sein. Das Schiff ist riesig. Sie springt auf und rennt zu der Kabine ihrer Familie. Sie reißt die Tür auf und stürmt in das luxuriöse Zimmer mit dem großen Doppelbett der Eltern und dem funkelnden Kronleuchter. Aber für das alles hat sie im Moment keinen Blick. Das Wichtigste ist jetzt, dass sie ihren Bruder findet. Sie schaut sich in der ganzen Kabine um, aber ihr Bruder ist nirgends. Tränen schießen ihr erneut in die Augen. Sie wischt sie wütend weg und verlässt die Kabine wieder.

Violet sucht jetzt schon seit einer Stunde nach Leo, aber er ist nicht aufzufinden. Sie steigt gerade die Treppen zu den Zimmern der dritten Klasse runter. Sie läuft den Flur entlang, als ihre Schuhe auf einmal nass werden. Der Flur steht schon leicht unter Wasser. Ein paar Zimmertüren öffnen sich und Leute mit gepackten Koffern kommen hinaus. Sie hasten den Flur entlang zur Treppe. Panik breitet sich wie eine Welle in Violet aus, droht sie zu überwältigen und zu ersticken. Die Kraft verlässt sie und sie stützt sich an der Wand ab. Ein paar Minuten steht sie so da, aber bald fasst sie sich wieder und läuft weiter den Flur entlang. Das Wasser steigt immer höher und der Boden neigt sich. Mehr und mehr Leute kommen ihr entgegen, raten ihr an Deck zu gehen, aber Violet ignoriert alle. ,,Leo? Leo, bist du hier?",ruft sie. Keine Antwort. Sie erreicht das Ende des Ganges. Leo ist nicht hier. Das Wasser steht hier schon bedeutend höher, also geht sie zurück. Violet fängt an zu rennen, als sie einen Mann in Uniform sieht, der das Stahlgitter vor der Treppe zuzieht. Sie und ein paar andere Leute schaffen es noch rechtzeitig hindurch. Violet eilt zum Deck, in der Hoffnung, ihren Bruder dort zu finden. Sie schaut sich auf dem Deck um, lässt ihren Blick über die Massen der verängstigten Menschen schweifen. Die Menschen stehen in Gruppen und drücken sich aneinander. So schützen sie sich vor der Kälte. Kurz glaubt Violet, ihren Bruder unter den Massen zu sehen, aber es ist nur ein anderer sechsjähriger Junge. Sie seufzt frustriert auf. Ein Steward hastet auf sie zu und hält ihr eine Rettungsweste hin. ,,Hier! Nimm die und begib dich dann zu einem der Rettungsboote! Es müssten noch drei übrig sein", sagt der Steward. Rettungsboote? Aber nein, sie muss ihren Bruder finden. ,,Vielen Dank, Sir. Aber ich muss meinen Bruder finden!",sagt Violet und macht auf dem Absatz kehrt. Sie läuft zurück ins Innere des Schiffes.

Das Heck der Titanic ragt inzwischen senkrecht in den Himmel. Weiße Leuchtraketen zischen von den Rettungsbooten aus in die Luft. Sie verschwinden im tiefschwarzen Wasser. Die Sterne leuchten hell am Nachthimmel. Der Mond richtet seinen hellen Schein auf eine Person, die versucht, das Deck zu erklimmen. Violet. Sie fällt öfters hin, hält sich aber an der Reling fest. Violet blickt zurück auf das eiskalte Wasser unter ihr. Ein Schauer läuft ihr den Rücken herunter. Sie erreicht das obere Ende des Hecks und klammert sich dort an der Reling fest. Sie darf bloß nicht loslassen. Das wäre ihr Ende. Weitere Leuchtraketen schießen in den Himmel, das Metall kreischt und die Luft ist erfüllt von den Schreien der Menschen. Einer der gewaltigen Schornsteine stürzt ins Wasser und zerquetscht die Menschen, die im Ozean treiben. Deren Schreie verstummen sofort. Eine Person neben Violet rutscht das Deck hinunter, überschlägt sich und schlittert ins Meer. Mit einem Mal flackern die Lichter der Titanic und gehen dann aus. Die Kraft weicht aus Violets Arm, sie lässt die Reling los und fällt. Das schwarze, eiskalte Wasser schlägt über ihr zusammen, umfängt sie, hüllt sie ein. Sie sinkt in die schwarzen Tiefen des Atlantiks hinab. Durch das Wasser sieht sie noch ganz schwach die Leuchtraketen, die in den Himmel schießen und dann ins Meer stürzen. Violet verschwindet nun endgültig in den Tiefen,  aber sie sendet noch ein stummes Stoßgebet gen Himmel: ,,Bitte, lieber Gott, lass meine Familie auf einem Rettungsboot sein. Insbesondere Leo. Leo, ich werde immer bei dir sein, selbst wenn du mich nicht siehst." Es ist ganz still, die Menschen schreien nicht mehr, blicken nur stumm ihrem Schicksal entgegen. Mit einem Mal gleitet die Titanic ins Meer...

Eine Familie, zwei Erwachsene und ein sechzehnjähriger Junge, gehen langsam auf die Gedenkstätte zu. Am Eingang hängt ein Schild aus Messing, in das eine Schrift eingraviert ist. ,,In der Nacht vom 14. April 1912 ist die legendäre Titanic gesunken. 1514 Menschen fanden in dieser Nacht den Tod, nur 710 überlebten. An dieser Gedenkstätte gedenken wir unseren lieben Freunden und Familienmitgliedern. Deswegen bitten wir hier um Ruhe",liest der Junge vor und öffnet das Tor. Seine Eltern und er gehen die Wege entlang und bleiben schließlich vor einer Art ,,Grab" stehen. Auf dem Stein steht: ,,Violet Brown, Opfer des tragischen Unglücks 1912." Leo, der Junge, fasst seine Eltern an ihren Händen und vereint in ihrer Trauer stehen sie still da. Tränen fließen über Leos Wangen. Er wird seine Schwester immer vermissen und nie vergessen. Er weiß aber auch: Niemand geht je wirklich.

                                                                               Ende

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