Die letzte Entscheidung

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Gothi verließ selten ihre Hütte. Zumindest seit sie krank geworden war. Nur dank einem Rezept, dass sie in dem wahrscheinlich ältesten Buch ihres Hauses gefunden hatte, war sie noch am Leben. Doch sie wusste, dass ihre Zeit bald vorbei sein würde. Sie spürte es. An ihrer körperlichen Erschöpfung, aber auch an ihrer emotionalen. Ein langes Leben hinterließ viele Eindrücke.

Sie sah es, wenn sie ihre Reflektion erblickte oder wenn sie zu all denen hochschauen musste, die selbst als Kinder größer waren als sie. Wenn ihr graues Haar ihr ins Gesicht wehte. Wenn sie ihren Stock ansah.

Und sie sah es in den Blicken der anderen Wikinger. Valka hatte bereits zahlreiche graue Strähnen, Grobians Haar würde bald komplett grau sein. Die Kinder der Kinder, die diese Insel so sehr verändert hatten, wurden immer älter.

Sie selbst hatte keine Nachfahren, aber jemand würde ihr Nachfolger sein müssen. Und wenn sie die Situation richtig einschätzte, dann blieb ihr nicht mehr sehr viel Zeit, um diesen Nachfolger zu trainieren. Sie musste sich entscheiden und bald. Sie würde sich heute Nacht entscheiden.

Gothi weckte einen ihrer kleinen Drachen und schrieb- so gut es mir ihren Händen ging- einen Brief an Grobian, in dem sie um eine Versammelung am nächsten Morgen bat. Sie würde einen Nachfolger ernennen. Der kleine Drache war bereits wieder eingeschlafen und sie musste ihn erneut wecken. Gothi gab ihm den Zettel und deutete auf die Schmiede. Womöglich hatte sie danebengedeutet, aber der kleine Drache verstand und flog in Richtung Schmiede davon, während seine Geschwister friedlich auf einem Haufen weiterschlummerten.

Gothi ging zurück zu ihrem Bett und setzte sich hin. Sie ließ ihren Blick- der auch nicht mehr der schärfste war- über die Schriftrollen und Bücher gleiten. Über Gefäße und Zutaten, die ordentlich aufgereiht auf den Tischen und Regalen standen. Über die Möbel selbst, die ihre Hütte an der Spitze von Berk füllten.  Und sie sah hinaus in die Nacht.

Es war eine klare Nacht, doch zuvor hatte es geregnet und der Geruch des Wassers hing noch in der Luft. Mit ihrem Blick stets auf die Sterne gerichtet, begann Gothi zu überlegen. Sie ging alle Wikinger durch, schloss die ganz jungen und alten aus, ebenso wie diejenigen, die man nicht von ihrem Platz bekommen würde. Dazu zählten Grobian, Valka, das junge Oberhaupt Hicks und die restlichen Drachenreiter, die mittlerweile als "Begründer der neuen Zeit" galten. Auch einige andere Wikinger waren mit ihren Taten schon genau richtig.

Doch sie wusste von Anfang an, dass ihre Wahl auf eine von nur wenigen Personen fallen würde. Ein Heiler brauchte Wärme und Sanftheit, aber auch den Mut sich alles anzusehen und das Nötige zu tun. Ein Heiler brauchte Wissen, aber auch Neugier. Ein Heiler musste Erfahrung ausstrahlen, Sicherheit, Geborgenheit. Doch zugleich konnte dieser Heiler nicht zu alt sein.

Die halbe Nacht verging und Gothi führte sich nicht einen Zentimeter. Ihr Drache war zurückgekehrt und schlief bei seinen Geschwistern. Auch Gothi selbst fühlte den Schlaf. Den lockenden Schlaf, der Ruhe und Erholung versprach. Der Schlaf, aus dem sie eines Tages nicht aufwachen würde. Er war zugleich Sicherheit und Gefahr, Schönheit und Grausamkeit, Traum und Alptraum. Doch sie gab nicht nach. Sie musste diese schwere Entscheidung treffen, diese bedeutende Entscheidung, die wahrscheinlich ihre letzte war. Mit diesem Gedanken hielt sie sich die ganze Nacht wach.

Am folgenden Morgen, als die Sonne bereits aufging, schlief sie schließlich ein. Sie hatte ihre Auswahl auf ein paar Personen beschränkt und würde sich von ihrem Gefühl leiten lassen. Zufrieden mit diesem Entschluss hatte sie ihren Augen erlaubt sich zu schließen.

Nur die Flügelschläge eines Drachens weckten sie später.
"Guten Morgen, Gothi! Ich soll sich abholen, denn du wolltest eine Versammlung einberufen, richtig?"
Sie nickte. Fischbein half ihr beim Aufsteigen und sie flogen zur großen Halle. Dort waren bereit alle versammelt und die Aufmerksamkeit fiel komplett auf Gothi, als sie eintrat.

Bis auf den schwarzen Nachtschatten, der sich in der Nähe von Hicks Haddock hielt, waren keine Drachen in der Halle. Hicks stand vorne, seine Frau und Tochter irgendwo in der Menge. Er winkte Gothi zu sich ran. Sein Gesicht zeigte keine Spur von Verwirrung und Gothi verstand auch, wieso. Sie hatte schonmal erwähnt, dass sie sich einen Nachfolger suchen würde und Hicks begriff Dinge schnell. Nach ihrer Krankheit und dem Alter, das man ihr ansah, war es nur logisch, dass der Zeitpunkt gekommen war.

Das Oberhaupt richtete einige Worte an die versammelten Wikinger und erklärte, wieso sie sich hier befanden. Gemurmel setzte ein, einige schnappten nach Luft. Die meisten kannten Gothi seit sehr jungen Jahren, sie war die älteste im ganzen Dorf. Kaum jemand war zur selben Zeit Kind gewesen wie sie. 

Sie ließ ihren Blick über die Menge schweifen. So viele Gesichter, weiter hinten waren viele verschwommen. Doch sie fand, wen sie suchte. Die Personen, zwischen denen sie sich jetzt entscheiden würde. Sie sah zum Nachtschatten und der brachte die Menge durch eines seiner Geräusche zum Verstummen. Der Moment war gekommen.

Gothi hatte ihren Stock und eine Schriftrolle mitgenommen. In der Schriftrolle standen die Namen derer, die als Heiler Berks fungiert haben. Die Rolle war alt und zerbrechlich, deswegen wurde sie öfters neu geschrieben. Doch die Namen blieben. Die originelle Rolle lag in einer Truhe in der Hütte, doch die abgeschriebene würde Gothi jetzt jemandem überreichen. Sie stieg die Stufen hinab.

Einige schauten erwartungsvoll, nur aus Neugier. Andere fragten sich, ob die Wahl wohl auf sie fallen würde. Gothi näherte sich der ersten Person auf ihrer Liste. Nein, er war es nicht. Sie passierte die zweite und dritte Person, schließlich auch die vierte.

Sie wollte auch schon an der fünften vorbeigehen, als etwas sie innehalten ließ. Es wurde still in der Halle, stiller als zuvor. Die Spannung in der Luft war geradezu greifbar. Gothi ging in die Menge und man machte ihr Platz. Auch ihre anvisierte Person sich zurück, die Augen geweitet, denn Gothi ließ sie nicht aus dem Blick. Sie, ihre Nachfolgerin. Die neue Heilerin Berks.

Lächeldn drückte Gothi ihr die Schriftrolle in die Hand. Und obwohl es ihr Schmerzen in den Beinen und dem Rücken bereitete, verbeugte Gothi sich und Berk tat es ihr gleich.

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