Kapitel 8

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Die Sonne ermannte sich noch nicht, hinter der fernen Gebirgskette hervor zu kriechen und schickte lediglich einen Sonnenstrahl als Spitzel an die Front. Bald würde sie aber das Himmelszelt emporklettern und die Nacht aus ihrem Reich verbannen.
Ursprünglich gefror mir die frostige Alpenluft die Atemwege. Aber jetzt stieg mein Atem in kleinen Wölkchen vor mir auf. Ich ließ die von der Kälte steifen Finger in den Ärmeln meiner Jacke verschwinden.
Mir persönlich brachte es keine Schande, der Großstadt den Rücken zu kehren. Mitleidig beobachtete ich den hektischen Alltag der dort lebenden Menschen. In der Wildnis stieß man auf keine Hektik. Pflanzen und Pokémon lebten im Einklang und trumpften sich zu einer abwechselnd wilden und friedlichen Symphonie, dirigiert von der Natur.
Wir erreichten einen Mischwald. Die Route führte uns an allmöglichen Gewächsen vorbei. Glücklicherweise fanden wir an den Bäumen immer wieder Schilder, die uns freundlicherweise darauf hinwiesen, noch auf der richtigen Fährte zu sein. Würden wir es auch nur wagen, eine Abkürzung zu finden, so wären wir kurzum in einem Irrgarten gefangen. Jede Abzweigung glich der anderen.
Die Pflanzen wuchsen über das immer mehr werdende Gestein. Es wirkte, als wollten sie sich ihr Revier zurückerobern. Die Umgebung ähnelte einem verspielten Kunstwerk, das mit Nuancen aus Grau und Grün experimentierte.
Die Schlucht wuchs mit jeder Meile zu einem Tal heran, ließ Bäume keinen Raum. Die Vogelpokémon nahm ich bloß noch als kreisende Punkte auf einem blauen Hintergrund wahr.
Irgendwann duldeten die Felsen tugendsam einen schmalen Weg. Die Kante der Schlucht war unerkennbar. Wir konnten sie nicht mehr umgehen. Wenn wir auf Höhe des Erzelingen-Tors gelangen wollten, mussten wir eine Etappe nehmen. Wegweiser leiteten uns Kehre für Kehre bergauf.

Ich konzentrierte mich auf meine Füße. Infolgedessen realisierte ich viel zu spät, dass Rocko spontan anhielt und ich ungewollt in ihn hinein krachte. Meine Lippen setzten schon zum ersten Laut an, doch Rocko legte seinen Finger an seinen Mund und deutete mir still zu sein. Augenblicklich versiegelte ich meine Lippen.
Erst dann wedelte Rocko in eine Richtung. Ich linste über seine breiten Schultern, erkannte zunächst bloß eine graue Silhouette. Plötzlich fuhr ein Windhauch an uns vorbei, streifte das dunkelgraue Gefieder eines Staralilis, das dort verlassen in der Einkerbung schlief. Seinen rechten Flügel hielt es in unnatürlicher Haltung von sich gestreckt. Bei jedem zweiten Atemzug erschauderte der ganze Körper. „Es ist verletzt."
Ich schlüpfte an Rocko vorbei und bewegte mich auf es zu. Ich nutzte den schmalen Pfad, über den auch Staralili zur Kerbe gelangt sein musste. Bedacht streifte ich meine Jacke von meiner Haut und warf sie geschwind über Staralili. Flugs schnappte ich mir das Wesen und trat meine Rückreise an.
„Wir sollten es nicht verletzt zurücklassen." Rocko kritisierte meine unkonventionelle Gefangennahme mit hochgezogener Augenbraue. „Lass uns die letzten Höhenmeter überwinden und oben um es kümmern." Das Wesen strampelte in meinen Armen, so gut es eben ging. Vorsichtig zwackte ich ihm Raum ab, sodass er es sich nicht seine Verletzung in seiner Not noch schlimmer machte.

Kühle umwob uns, als wir die Alm-Wiese erreichten. Gänsehaut breitete sich über meinen Arm aus. In der Nähe sah man die imposanten Bergspitzen, die in dieser Höhe in Nebel gekleidet waren. Zwischen den Graten hindurch lag der Pfad, den die Einwohner als Erzelingen-Tor bezeichneten.
Mit viel Fingerspitzengefühl wickelte ich das Pokémon aus seiner Zwangsjacke und bettete es behutsam in den Stoff meiner Jacke ein, damit es nicht frieren musste. Ich wollte nach ihm greifen, aber das Staralili pickte nach mir. Es begann erneut ein Theater zu veranstalten, schlug wild mit seinem gesunden Flügel um sich und riss weit seinen Schnabel auf. Schrillend laut gab es uns seinen Frust bekannt.
„Hör auf, dich so grundlos aufzuführen! Du hast zwei Möglichkeiten: Entweder ich schaue mir jetzt deinen Flügel an oder du wirst vermutlich nie wieder fliegen können. Ich wünsche dir dann lediglich viel Vergnügen beim Überleben." Verblüfft über den strengen Ton in meiner weichen Stimme, blinkerte mich Staralili an und hörte prompt mit seinem Zappeln auf. Staralili besaß ein stures und temperametvolles Gemüt und mit Empathie kam man anscheinend nicht vom Fleck. Die klaren Linien, die das Pokémon in Fülle brauchte, erforderten einen energischen Ton und einen entschiedenen Gesichtsausdruck.
Eingeschnappt über die minimale Schimpftirade, ließ mich der Vogel an sich Hand anlegen. „Trotz deines zurückhaltenden Charakters, forderst du Disziplin ein. Beeindruckend." Rocko beobachtete mit verschränkten Armen jeder meiner Bewegungen. Eigentlich war mir das reichlich unangenehm, jedoch versuchte ich mich auf Staralili zu konzentrieren und ihm nicht noch mehr Schmerzen zuzufügen.
„Manchmal muss man zu rigoristischen Worten greifen, um jemanden zu seinem Glück zu verhelfen oder sich Respekt einzuhandeln. Sonst tanzen uns Pokémon auf der Nase herum." „Eine Münze, zwei Seiten", erwiderte Rocko. Das gesprochene meinte er nicht im negativen Sinne.
Ich tastete vom Flügelansatz abwärts. Das Tier begann nervös zu zuckeln. Rocko reichte mir das Verbandszeug. „Die Speiche ist leicht angebrochen, aber nicht durch. Ich habe es geahnt. Das verheilt aber nach ein paar Tagen." „Woher weißt du das?" „Vor ein paar Monaten hatte ich denselben Fall. Es ist also nicht das erste Pokémon mit dieser Beschwerde, welchem ich helfe. Es ist erstaunlich, dass es bei Pokémon einen dreimal schnelleren Heilungsprozess als beim Menschen gibt." „Und woher rochst du bei diesem Kandidaten die Lunte?" „Durch die Anatomie-Bücher meines Vaters, die er für seine Studien brauchte. Ich habe Tage und Nächte darin gelesen und versucht herauszufinden, was dem Kleinen fehlte. Es musste unerträgliche Schmerzen ertragen haben." Staralili musterte mich nachdenklich, als ich den Verband mit einem Pflasterstück fixierte. Erschöpft tauchte er seinen Schnabel in den Stoff und schloss die Augen. „Heute kann ich mich aber gar nicht mehr an den Inhalt des Buches erinnern. Staralili hier hatte also wahnsinniges Glück, dass ich schon mal einen selben Fall behandelt habe."

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