Kapitel 9

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Mit offenen Augen starrte ich dem kreideweißen Plafond entgegen. Geistesabwesend schnappte ich ein paar Fetzen der Welt auf, aber dreiviertel von mir befand sich schon im Träumeland. Heute fand das letzte Training vor dem ersten Arenakampf statt, und meine Gliedmaßen fühlten sich an, als bestünden sie aus Granit, anstelle aus Haut, Knochen und Muskeln. Ich hatte Arme und Beine in alle vier Himmelsrichtungen gestreckt und empfand Gewicht auf meiner Brust, als hätte man mir den großen, tonnenschweren Kohleblock aus der Mine dort abgestellt.
Das strenge Trainingsprogramm raubte mir jegliche Kräfte, war aber mehr als notwendig. Rocko lehrte mich die letzten Tage hinweg die wichtigsten Kampfregeln und half mir meine Attacken zu verfeinern. Er unterrichtete mich in der vielseitigen Einsetzbarkeit jeder einzelnen Attacke meiner Pokémon. Ich nutzte sie zum Blockieren, wurde in Techniken geschult, die einem aus misslichen Lagen retteten und für einen selbst in nur einem Augenaufschlag günstig werden konnten. Insofern man stets die Ruhe bewahrte.
Pikachus Trainingseinheiten liefen reibungslos. Er gehorchte und war stets bemüht, sein Bestes zu geben. Chelast hingegen war ein ungezogener Bengel. Das Pflanzenpokémon jagte seinen selbst abgeschossenen Attacken hinterher, spielte mit losem Zeitungsblättern, die vom Wind durch Erzelingen getragen wurden, oder wälzte sich im Sand des Kampffeldes.
Rocko und ich beschlossen daher auf ein Training zu verzichten, nachdem Chelast seine Gegner als Spielpartner kategorisierte und ich frustriert hinwerfen wollte. Ersatzweise schlug Rocko Konzentrationsübungen vor. Den halben Tag verbrachten wir damit, Chelast ein paar Übungen einzutrichtern, aber diese trugen nur spärliche Früchte. Das Endresultat von fast fünfeinhalb Stunden Geduld aufbringen, waren spotthafte fünf Minuten, in denen sich Chelast allein konzentrieren konnte. Wäre das Abendgeläut der Bergkirche nicht in die Quere gekommen, hätte der Racker bestimmt länger durchgehalten. Mir war die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben. Trübsinnig ließ ich mich auf eine Bank fallen, während Rocko murmelte, dass er schon einen kleinen Fortschritt erkannt hätte. Der war so winzig, dass der Sieg des Arenakampfes außerhalb meiner Reichweite lag. Meine Laune übertrug sich auch auf Chelast, welcher beklommen nähertrat und seine Stirn gegen meine Wade presste.
Mein Herz erweichte. Sein unreifes Verhalten war nicht böse gemeint und er wusste über die Konsequenzen nicht Bescheid. Ich durfte nicht zu streng mit ihm sein, schließlich war er noch ein Kind. „Du warst heute fantastisch", lobte ich ihn und die Traurigkeit aus seinem Gesicht schwand. Die Aufrichtigkeit in meiner Stimme war unüberhörbar und die Erleichterung, die das Herz von Chelast umwob, deutlich zu spüren.

Es war jeder noch so kleinster Versuch zwecklos, Chelast zuzuraunen, er solle sich gefälligst benehmen. Am nächsten Tag hatte ich schon den Termin für einen Arenakampf vereinbart. Ich kam nicht drum herum gegen Veit anzutreten, gleichviel ob mit einem konzentrierten oder zerstreuten Chelast.
Schon als der Tag noch auf Kindesbeinen lief, brachen wir zur Arena auf. Kreuzehrlich gesagt wachte ich mit einem fremden Gefühl in der Magengrube auf, dass sich am besten mit Vorfreude und leichter Panik definieren lassen würde. Bis mir dann so übel wurde, dass ich am liebsten liegen geblieben wäre.
„Hast du dir noch eine Taktik zur Seite gelegt?" Rocko war kurz stehen geblieben, um sich den Schnürsenkel zu binden und schloss wieder mit mir auf. Bergauf ging es nur zäh voran. Wir hatten Erzelingen hinter uns gelassen und wanderten zur extern liegenden Arena hinauf. „Wozu? Die geht mir sowieso nicht auf." „Wer klingt denn da so pessimistisch?" „Ich bin nicht pessimistisch. Ich halte meine Erwartungen im Zaum." Rocko setzte zum Widerspruch an, aber er hielt plötzlich inne. Er schien die momentane Lage wieder vor Augen zu haben und schlagartig ebenfalls nicht mehr zuversichtlich zu sein.
„Manche Trainer beginnen ihre Reise ja von Sonnewik aus. Sind dann die Pokémon für diese Arena hier nicht viel zu stark?" „Veit ist nicht offiziell der erste Anwärter für Arenakämpfe hier in Sinnoh. Das Team, mit dem er heute gegen dich antritt, ist nicht sein einziges." „Er hat mehrere?" „Jeder hat mehrere Teams, weswegen auch die ganze Prozedur vor dem Kampf notwendig ist. Du musst eintragen lassen, mit wie vielen Pokémon du kämpfst und wie viele Orden du errungen hast. Je nachdem wägt der Arenaleiter ab, welches Team und welche Strategie passend ist, um den Trainer zu fordern und ihn auf eine neue Etage eines Kampfes zu setzen. Dabei soll er ihm aber trotzdem die Chance auf den Sieg geben." „Verliert er im Rausche des Kampfes nicht doch den Verstand und kämpft härter, als er sollte?" „Nein. Dafür belegen Leiter Fortbildungen und tauschen sich in Seminaren mit Kollegen aus. Sie teilen Erfahrungen über reisende Trainer und wissen, wie sie sowohl mit Frischlingen als auch mit Erfahrenen umzugehen haben. Meistens machen sie einen auf typische Trainingsfehler aufmerksam und reflektieren gemeinsam mit Herausforderern ihren Kampf." Rocko überschüttete mich nahezu mit Informationen, wenngleich sie auch nicht unbedeutend waren. Er kannte alle Geheimnisse rund um die Arena, schließlich führte er einst eine in Marmoria City. Jetzt hielt sein Bruder Forrest die Stellung und er konnte reisen.
Kurz bevor ich das schwere Metalltor aufzog, das den Lärm innerhalb der Arena behalten sollte, fasste mich Rocko am Arm. „Hör zu, der erste Kampf ist meist... na ja, ... wie soll ich es formulieren...", er biss sich auf die Unterlippe und überlegte, wie er die Wahrheit in freundlichere Worte kleiden konnte, „schwierig? Veit erwartet, dass du eine Trainerschule absolviert hast und..." „Ich soll mit einer Niederlage rechnen, schon klar", entkam es mir trotzig und nicht nur ich erschrak über meinen Tonfall. Obwohl meine Hoffnungen ebenfalls nicht angeschwollen waren, kränkten mich Rockos Worte sehr. Er war immer der optimistischere von uns beiden gewesen. Ich erwartete Rückworte, aber er schien seine Aussage nicht zurückzuziehen. Verärgert riss ich das Tor auf, welches in seinen Angeln ächzte und ließ Rocko hinter mir.

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