„Ist dieser Hügel passiert, müsstet ihr Zweiblattdorf sehen können." Der Bauer schwenkte zum Abschied seinen Strohhut, startete seinen Traktor und tuckerte in jene Richtung davon, aus der wir ursprünglich kamen. Er hatte uns angeboten ein Stück mitzunehmen, nachdem ich mich kraftlos auf einer Bank fallen ließ und er aus heiterem Himmel mit seinem Vehikel daher schaukelte. So schüttelte es uns einige Meilen auf einer Ladung Heu nach Süden.
Der Feldweg zog sich durch die traumhafte Landschaft. Kies knirschte unter unseren Füßen. Über den Äckern und Feldern flatterten die unterschiedlichsten Pokémon, begleitet von einem zufriedenen Brummen ihrerseits. Rocko seufzte genüsslich und starrte verträumt in die Ferne. Er schien seine Umgebung mit jeder Faser seines Körpers einzusaugen.
Pikachu balancierte am Zaun, der die Miltanks in ihren Weiden hielt. Eine Herde Ponita und Gallopa stoben an uns vorbei, donnerten mit ihren Hufen über die Erde und wirbelten Staub und Dreck auf. Am Ende der Wiese verklang das rhythmische Geräusch stetig. Käferpokémon schwebten von Blume zu Blume und bedienten sich am Nektar der Blüten, die sich am Wegrand säumten.
Als wir den Scheitel erklommen hatten, schien Rocko für einen Moment den Atem anzuhalten und auch ich genoss den Augenblick. Weit über die Landschaft hinweg, zogen sich die Häuser von Zweiblattdorf. Um die fortlaufende Route zu erblicken, musste ich die Augen zusammenkneifen. Am Horizont verschmolz diese mit den Schatten der Berge. „Siehst du das Einfamilienhaus, links außen? Dort wohnt Lucia." „Lucia ist der Name deiner ehemaligen Reisekameradin, nehme ich an?" Rocko schnalzte bestätigend mit seiner Zunge.
Unsere Beine setzten sich wieder in Bewegung und marschierten den Rücken der Wölbung hinunter. Bald schon ließen wir den ersten Bauernhof, der die umliegenden Felder bewirtete, hinter uns. Zweiblattdorf verdankte seinen guten Ruf den Höfen, die die Dorfbewohner mit ihren selbstproduzierten Produkten versorgte.Rockos Tempo beschleunigte sich um das Doppelte, als das Hausdach hinter einer Kiefer hervorspähte. Mühsam hinkte ich hinterher.
Eine prächtige Hausauffahrt, gesäumt mit den unterschiedlichsten Beerensträuchern, nahm uns in Empfang. Die Sonne warf ihre Strahlen gegen den roten Backstein des Hauses. Ungeniert öffnete Rocko die Gartentür und stakste über das Kopfsteinpflaster zur Haustür.
Kurz nachdem Rocko die Klingel zum Schrillen gebracht hatte, tauchte hinter dem milchigen Fenstereinsatz der Haustür ein Haarschopf auf. Die Tür wurde mit Schwung aufgeschoben und eine verdatterte Frau blinzelte uns entgegen. Ihre wohlgeformten Augenbrauen hoben sich freudig, während sich ein Lächeln soweit ausbreitete, dass eine Reihe gerader, weißer Zähne zum Vorschein kam. „Rocko?" Sie wischte sich ihre mehligen Hände an der Schürze ab, um ihn zur Begrüßung in die Arme ziehen zu können. „Nein, du bist es tatsächlich!" „Natürlich bin ich es." Die Frau hielt ihn eine Armlänge von sich entfernt weg und lugte zu mir. „Du bist in Begleitung, wie ich sehe ... aber, kommt doch erstmals herein in die gute Stube." „Vielen Dank, Katrin." Sie winkte uns ins Haus.
Die untere Etage war ein offener Bereich. Keine Wände teilten die Bereiche in Räume ein. Links führte eine Treppe in das obere Stockwerk und neben den Treppenansatz kuschelte sich die Küche. Vor der Küchenzeile stand ein großer Esstisch. Rechts war die Verandatür, die sich am Kamin anlehnte.
„Ich bin übrigens Katrin, die Mutter von Lucia. Sie und Rocko waren vor vielen Jahren gemeinsam in Sinnoh unterwegs." Sie deutete mit ihrem Finger auf ein Foto an der Wand, worauf drei Trainer abgebildet waren. Einer davon war Rocko, das Mädchen war dann wohl Lucia und der dritte im Bund war mir unbekannt. „Ich heiße Emma", stellte ich mich höflicherweise vor.
„Bitte, setzt euch doch. Ihr seid von der langen Anreise bestimmt erschöpft." Sie huschte in die Küche und schenkte emsig Getränke in Gläser ein. Unsicher blieb ich auf meinem Fleck stehen. Rocko schob einen Stuhl zurück und bot ihn mir an.
„Erzähl mir, was führt dich denn nach Sinnoh zurück?" Nachdem auch Rocko Platz genommen hatte, sich der Sessel quietschend dem Tisch näherte, antwortete er: „Ich wollte mich erkundigen, wie es Lucia so ergeht." Zerknirscht setzte sich auch Katrin. „Es tut mir wirklich leid, aber sie wurde vor wenigen Tagen zurück nach Herzhofen beordert, um bei einer Kollektion zu helfen. Sie ist vor wenigen Tagen mit dem Zug abgereist." Rocko grinste. „Sie lernt wohl niemals still zu sitzen." Katrin lachte. „Ruhe ist für sie ein Fremdwort. Lucia ihren Traum leben zu sehen... ach, ich werde wieder sentimental."
Ihr Blick schweifte zum Gruppenfoto an der Wand. „Du hältst jedes deiner Versprechen, oder?" „Warum sollte ich nicht?" Katrin tätschelte kurz seine Hand, welche er auf den Tisch gelegt hatte. „Schön zu sehen, dass aus dir so ein großartiger Mensch geworden ist." Rockos Wangen schimmerten leicht rosig. „Unglaublich wie schnell die Zeit doch verfliegt. Die Reise durch Sinnoh ist schon sieben Jahre her. Wie alt warst du damals? Fünfzehn? Sechzehn?" Katrin blinzelte zu Rocko. „Fünfzehn", bestätigte er ihr.
Katrin überkreuzte ihre Beine unter dem Tisch, stützte ihren Kopf auf einer Handfläche ab und betrachtete mich seelenruhig. „Rocko hat dich also auf den Weg hierher aufgegabelt?" Ich nickte knapp. „Aufgegabelt klingt noch nett - es war eher ein Vorfall, der uns zusammenführte. Ein großer Teil des Waldes nahe dem See stand in Flammen und Emma war mittendrin." Bestürzt weiteten sich die Augen von ihr. „Was? Davon habe ich gar nichts mitbekommen. Himmel, geht es dir gut?" Wieder nur brachte ich ein stummes Nicken zustande. Je länger ich in diesem Raum war, desto unbehaglicher wurde mir. „Rocko war ja da", riss ich mich zu einer vernünftigen Aussage zusammen.
„Leider hat sie dabei ihr gesamtes Hab und Gut verloren..." „Hier kugeln ganz sicher noch die einen oder anderen Dinge herum, die du gerne haben kannst." Katrin lächelte aufmunternd. „Dann kannst du Rockos Ersatzkleidung ablegen. Die scheinen dir sowieso zu weit zu sein." An Rocko gewandt fügte sie noch hinzu: „Lass das nur meine Sorge sein." „Sie sind echt unschlagbar." „Quatsch, das ist das Mindeste was ich für euch beide tun kann."
Stille kehrte ein. Katrin betrachtete mich mit leicht geneigtem Kopf so kritisch wie ein Ausstellungsstück in einem Museum. „Du siehst jemanden so verflixt ähnlich, doch mir will einfach nicht einfallen, wem. Du kommst nicht aus Sandgemme, habe ich recht?" Mein Herz trommelte in einem wilden Rhythmus, als sie mich eingehend musterte. Jählings hoben sich ihre Augenbrauen, als wäre der Groschen gefallen. Katrins Gesichtsmuskeln entspannten sich daraufhin wieder und ich drosselte meine Voreingenommenheit.
„Habt ihr beiden es sehr eilig? Ihr könnt über Nacht bleiben und euch von den Strapazen erholen." Der Braunhaarige schien zu überlegen. „Es würde mich freuen. Seitdem Lucia außer Haus ist, scheint hier alles lahmgelegt zu sein. Meines Erachtens ist es viel zu ruhig." „Ihre Gastfreundschaft ist wirklich großzügig."
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Pokémon - Spuren der Vergangenheit
FanficMisstrauen. Rückzug. Resignation. Drei Worte, welche Emma ständig durch den Kopf schwirren. Gefangen in ihrem eigenen Irrgarten, verfolgt sie die Spuren ihrer Vergangenheit, in der stillen Hoffnung, endlich auf die Wahrheit zu stoßen. Dabei stolper...