„Vergangene Nacht löste sich eine kilometerlange Steinlawine von einem Hang. Diese blockiert nun den Verbindungsweg zwischen Ewigenau und Erzelingen. Teile des Fahrradweges wurden beschädigt und müssen saniert werden. Die Aufräumarbeiten beginnen heute Mittag und werden die nächsten drei Wochen andauern. Der Fahrradweg ist bis auf Weiteres gesperrt, verletzt wurde glücklicherweise niemand."
Rocko widmete sich wieder dem Tagesblatt, nachdem die Reporterin zu weiteren Neuigkeiten wechselte. „Dann hat sich die Abkürzung wohl erübrigt." Er spülte sein Stück Brot mit seinem Tee nach. „Wir müssen über Flori gehen." Ich lehnte mich zurück und aß seelenruhig mein Müsli weiter. „Außer es gäbe einen Grund, die drei Wochen in Erzelingen zu verbringen. Deine Entscheidung", fügte er hinzu, nachdem ich keine Antwort hören ließ.
Über den Rand seiner Zeitung warf er mir kurz einen Blick zu und ich verneinte. In den drei Wochen wären wir auf gröbsten Umwegen schon längst in Ewigenau. Aus Erzählungen und von Postkarten her war ich über die Schönheit Flori gut bewandert. Die Landschaft schien dort wie einer Leinwand entsprungen.
Ich musste mich sehr beherrschen, nicht in einen Freudentaumel zu verfallen. Endlich bot sich mir die Möglichkeit, die Natur in der Gegend Floris hautnah zu erleben. Mein Vater nahm mich zwar gelegentlich auf seine Kurztrips mit, aber dort schafften wir es nicht gemeinsam hin.Staralili flog voraus. Beschwingt segelte er über unseren Köpfen hinweg und ließ mich mit einem Gefühl der Sehnsucht am Boden zurück. Das unwiderstehliche Gefühl einen Seufzer auszustoßen, stichelte mich schon eine Weile, bis ich mich dem schließlich hingab. Der Wind fing eine Melodie auf und trieb sie so leise zu mir, dass ich sie mir fast einzubilden vermochte. Fast unhörbar summte ich mit. Sehr spät realisierte ich, dass mir die Melodie schwer vertraut war. Das Lied lag mir so leicht wie eine Daunendecke auf den Stimmbändern, dass ich sie einfach weghüsteln konnte, wenn mir drum lieb war.
Ich dachte mich zu täuschen. Aber auch Rocko schnappte sie auf. Staralili zwirbelte sie spielerisch die Federn und sie trug ihn wie von einer Wolke eingehüllt ihrer Quelle entgegen. Wir folgten beiden. Jeder Schritt fiel mir schwerer als das Lied intensiver wurde und Unbehagen mein Gesichtsausdruck zeichnete. Schon längst konnte ich die vertraute Tonfolge mit einem Geniestreich meiner Fantasie rechtfertigen. „Hörst du dieses Volkslied?"
Wir wanderten noch einige Meter, vermachten dem Wanderpfad der stillen Natur, die uns gewichen war, um ihr ja keine Schikane zu tun.
Auf einem Felsplateau saß ein junger Mann. Genüsslich horchte er der verklingenden Melodie, die er mit geübten Griffen seiner Piccolo entlockte.
Entrüstet heulte der Wind, als sich die letzte Note gänzlich verabschiedete. Lässig baumelten seine Füße über uns. Würde ich die Arme nach den Füßen strecken, könnten meine Fingerspitzen seine Schuhsohle berühren. Dies unterließ ich, um Peinlichkeiten zu vermeiden.
Er war mir gänzlich fremd. Worin er ein Talent zu hegen schien, war es mit seinem Instrument mein Pokémon zu verzaubern und zu ihm zu locken. „Das Lied scheint nicht nur euch Geschöpfe, sondern nun auch die Trainer in ihren Bann zu ziehen." Er beugte sich über die Kante, mein Staralili auf seiner Schulter und ein verwegenes Lächeln im Gesicht tragend. Über seine Lippen schlüpfte ein sachtes Lachen.
Vor Schreck ging ich leicht auf Distanz. Woher wusste er von Rocko und meiner Präsenz, wo er zunächst doch geradeaus blickte? Er rutschte an den Rand, stützte sich kurz ab und glitt in die Tiefe, bis er mit den Beinen festen Boden ergriff.
Wortlos, aber mit interessierten, wachsamen Augen tilgte er seine Schulden. Staralili flatterte mit raren Flügelschlägen auf seinen rechtmäßigen Platz zurück. „Du hast da zwei gesunde Pokémon herangezogen", meinte der Fremdling, nachdem er auch Pikachu bis in die Wurzel unter die Lupe genommen hatte. „Es gibt noch einen Dritten im Bunde", erklärte ich, „der Kleine hat Gitterbettsperre." Im strohblonden Haar meines Gegenübers, verhedderten sich Sonnenstrahlen. Ein aufrichtiges Interesse lag in seiner Mimik, die prompt von einer frappierten abgefangen wurde. Schon während sich seine Hand nach meiner streckte, streifte er sich seinen Handschuh ab, um sich mir als Ricky vorzustellen.
„Du bist ein Ranger im Dienst", stellte ich beim Betrachten seiner rot-weißen Montur fest. Die Abenteuerlust blitzte für eine Sekunde in seinen Augen auf. „In der Tat. Ich machte gerade Rast. Vorhin habe ich eine Bidiza-Familie in der Natur ausgesetzt. Die Mutter wurde krank, man darf aber das Muttertier nicht vom Nachwuchs trennen, ansonsten nimmt es sich dem Kind nicht mehr an." „So eine komplette Familie einzufangen, erfordert sicherlich viel Fingerspitzengefühl." Ricky zuckte mit den Schultern und entschloss sich dann doch zuzustimmen. „Hängt von den gegebenen Umständen ab." Die Gelassenheit in seiner Art faszinierte mich auf besondere Weise. Ricky schien mit ganzem Herzen bei seiner Arbeit zu sein.
„Was treibt euch beide in diese menschenleere Gegend?" Von Rocko und mir flankiert, begleiteten wir Ricky ein Stück seines Weges. Seine ärmellose, blutrote Weste flatterte im Lüftchen. Unter dem Stück Stoff lugten die Ärmel seines schwarzen T-Shirts hervor. „Emma hat neulich ihren ersten Orden errungen", ließ sich Rocko auf den Smalltalk ein.
„Du strebst also danach, in der Liga zu kämpfen?" Ricky richtete die Frage an mich. „Irgendwie schon", murmelte ich kühn. Ricky lachte herzlich. „Irgendwie?", neckte er mich. „Ja, schon." Ein freches Grinsen huschte über sein Gesicht und entlarvte ein Grübchen an seiner rechten Wange. „Jetzt visiert ihr Ewigenau an?" „Ja, der schnellere Weg ist leider aufs Weitere gesperrt." „Das mit der Steinlawine habe ich mitbekommen. Ich kann euch ein Stück mitnehmen", bot uns Ricky an. „Ich steuere denselben Kurs an." „Womit?", wunderte ich mich und beherzigte reichlich spät, dass die Worte hörbar waren.
„Hiermit." Der Ranger deutete stolz in eine Richtung, wo am Beginn eines Forstweges zwischen Geröll und Sträuchern ein Wohnmobil parkte. „Du schipperst mit einem Wohnmobil durch die Weltgeschichte?" Ich bündelte mein Erstaunen in eine Frage. „Es ermöglicht mir Flexibilität, hält aber das Versprechen eines einsamen Lebens ein. Da ich nirgendwo eine fixe Niederlassung habe, kann ich heute in den Bergen, morgen schon wieder am Meer sein." Wonnevoll tätschelte er seinen Wagen.
So schäbig der Karavan von außen auch aussah, die Inneneinrichtung war modern und auf Hochglanz poliert. Rechts zur Tür hinein, befand sich die Fahrerkabine mit einer wuchtigen Windschutzscheibe. Zu meiner linken ein kleines Bett, WC-Kabine und ein Schrank, sowohl auch eine Miniaturküche mit einer Eckbank und Tisch. „Das geniale an der Küchenbank ist die Verstellfunktion. Drückt man den Tisch nach unten und füllt die Lücke mit den übrigen Lehnen, so hat man hier noch ein Gästebett", erklärte Ricky, als wir kaum fähig waren, etwas Sinnvolles beizusteuern. Er warf die Tür zu und ließ sich hinter das Lenkrad nieder. Er drehte den Schlüssel in seiner Zündung und startete den Motor, der mit lautem Gebrüll zum Leben erwachte. „Anschnallen. Es könnte holprig werden." Er warf uns über seine Schulter ein Lächeln zu. Rocko leistete ihm am Beifahrersitz Gesellschaft, während ich den Esstisch präferierte.
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Pokémon - Spuren der Vergangenheit
Fiksi PenggemarMisstrauen. Rückzug. Resignation. Drei Worte, welche Emma ständig durch den Kopf schwirren. Gefangen in ihrem eigenen Irrgarten, verfolgt sie die Spuren ihrer Vergangenheit, in der stillen Hoffnung, endlich auf die Wahrheit zu stoßen. Dabei stolper...