Kapitel 4

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Die Vergangenheit jagte mich verbissener denn je. Insgeheim hoffte ich, bei diesem Wahnsinnslauf zu krepieren. Erbarmungslos führten mich meine Beine in das Schwarze meiner Historie zurück.
Vielleicht war es Zeit für Vergebung und Versöhnung? Sie waren die feinsten Qualitäten des menschlichen Daseins, aber war ich soweit? Mein Herz zog sich in den hintersten Winkel seines Käfigs zurück und war stumm geworden. Es teilte mir seine Meinung gar nicht mehr mit. Ich war gefühllos geworden und glaubte nur mehr wie eine Maschine zu funktionieren. Genau diese Fassade bewahrte mich vor weiteren Schaden.
Ich saß auf der vorderen Terrasse des Hauses. In meinen Träumen stand es immer in Flammen. Pikachu zupfte am Saum meiner Jacke. Er hielt es für eine Schnapsidee, diese Ruine ohne Unterstützung zu betreten. Hatte ich eine Wahl? Sinnlose Stunden würden verstreichen, wenn ich nur hier saß und Däumchen drehte, ohne meinen Worten Taten folgen zu lassen. „Vielleicht erreichen sie meine Worte?" Hoffnungslosigkeit schwang in meiner Stimme mit, weil ich schon früher eines Besseren belehrt wurde. Ich redete mir den Satz solange ein, bis ich glaubte, ihn unter meiner Haut eintätowiert zu haben. Erst dann raffte ich mich hoch.
Quietschend schob ich die Tür nach innen auf. Die kalten und zittrigen Hände verkrampften sich um den Türknauf, versuchten, die sichere Außenwelt nicht hergeben zu wollen. Der Geruch von schalem Alkohol mischte sich mit der muffigen Luft des Hauses zu einem seltsamen Gemisch und waberte mir wie ein Nebelschwall entgegen. Der bittere Geschmack auf meiner trockenen Zunge war kaum zu ertragen.
„Scher dich zurück in die Wildnis! Glaubst du, ich weiß nicht, dass du seit heute Morgen auf der vorderen Terrasse herumgammelst?", hallte die vom Alkohol raue Stimme meiner Mutter durch den Flur und ließ sogar die kahlen Wände erschaudern. Die Farbe blätterte bereits ab. Dort, wo einst die Familienfotos in kunstvoll gestalteten Rahmen hingen, befand sich nur ein leicht gräulicher Rand. Mein Blick blieb an der Treppe hängen. Meistens hatte ich mich in der engen Abstellkammer unter den Stufen vor meinem Dad versteckt. Hatte er mein Versteck enttarnt, sauste ich lachend davon. Fahl drang dieses Kinderlachen an meine Ohren. Es zerriss mir fast das Herz. Vom warmen Einfamilienhaus waren nur mehr kalte Mauern und verstaubte Erinnerungen übrig.
„Ich werde nicht eher das Haus verlassen, bevor wir nicht vernünftig miteinander gesprochen haben." Ich stieß mich mit letzter Kraft vom Türrahmen ab und spickte vorsichtig in das Wohnzimmer. Meine Mutter starrte mir mit ausdruckslosen Augen von ihrem Platz am Boden entgegen. Das Wohnzimmer war übersät mit leeren Wein- und Bierflaschen und auf dem beigen, weichen Teppich wohnte ein dunkelroter Weinfleck. Der Gestank von Alkohol war hier am intensivsten. Pikachu presste seinen Körper nahe an meinen Kopf und versicherte mir, dass er bei mir war. Er löste seine Spannung über feine Blitze aus seinen Backen, die über meine Haut tanzten und sanft prickelten.
„Zu welcher Ehre bin ich denn gekommen, dass mich mein Töchterlein besuchen kommt?" Ich wagte einen Schritt in die Gruft hinein. „Wir sollten endlich über das Sprechen, was damals passiert ist, findest du nicht?" „Über deinen Vater?" In ihren Augen tobte ein Eissturm und diese ungezähmte Wut leuchtete mit einem Male wieder in ihrem Gesichtsausdruck auf. Ihre Stimme behielt sie unter Kontrolle. „Es wird Zeit", unterstrich ich meinen Entschluss. Wir beide wussten, dass das Unfug war.
„Du und ich, wir sind eine Familie", begann ich, „und wir sollten einander unterstützen und uns nicht anfeinden und anfauchen. Zusammen hätten wir uns gegenseitig durch diese Zeit getragen." Freudlos lachte meine Mutter auf. „Familie... ja, ja. Stiehlst du deshalb wöchentlich meinen Vorrat?" „Du weißt, dass..." „Papperlapapp", knurrte sie dazwischen. Sie verschränkte die Arme. Aus ihrer trotzigen Haltung konnte ich ablesen, dass ich schon längst verspielt hatte und sie meiner Bitte nicht nachkommen würde. Umso mehr verblüffte es mich, als sie mich mit ihren glasigen Augen einfach ansah.
„Du willst also die komplette Geschichte hören?" Meine Lippen formten ein lautloses ja. „Die Wahrheit." Sie hievte sich auf den Sofasessel. Ihre Bewegungen wirkten steif und mühsam. Der unkontrollierte Alkoholkonsum weckte den Anschein, dass sie viele Jahre mehr auf ihren Rücken trug, als sie eigentlich erst musste.
„Die Wahrheit..." Sie lächelte spöttisch. „Die Wahrheit ist, dass dein geliebter Vater, den du schon jahrelang verteidigst, ein elender Feigling ist." Ihre Worte legten sich wie ein Gewicht auf meine Schultern und versuchten mich unter Wasser zu ziehen. „Die Erziehung eines Kindes wurde ihm nicht in die Wiege gelegt, weshalb er sich distanziert hat, bis er schließlich nicht mehr erschien." Häme zeigte sich in ihrem Gesichtsausdruck. „Wir waren beide zu jung, um ein Kind zu bekommen und haben dennoch beschlossen, es großzuziehen. Wir wollten dem Wesen unter meinem Herzen eine Chance geben. Wir versuchten über die Runden zu kommen, aber mit einer Person mehr im Haus, wurde das Geld knapp. Die Beziehung deines Vaters und mir hing am seidenen Faden, bis er schließlich beschloss, dass ihm ein Kind in seinem Leben zu viel ist und mich mit dir zurückließ."
Für einen klitzekleinen Moment empfand ich Mitleid, aber dann sah ich in die Augen meiner Mutter und konnte nur mehr Gehässigkeit erkennen. „Nein!" Das Wort brauste schneller aus meiner Kehle, als ich über mögliche Konsequenzen nachdenken konnte. Ich hatte meinen Vater in guten Erinnerungen behalten. Aus ihrem Mundwerk kamen dreiste Lügen. „Ich kann dir das nicht glauben! Niemals würde Dad uns so im Stich lassen! Er war und ist nicht feige!" Sie reimte sich diese Geschichte doch nur zusammen. „Siehst du ihn etwa hier?", widersprach sie mir schroff. Ich schwieg, aber in mir brodelte es, wie in einem dampfenden Kessel.
„Mir schwant, dass du nicht gekommen bist, weil du über deinen Vater sprechen möchtest. Was ist der wahre Grund für dein auftauchen?" Ergeben blickte ich zu Boden. Trotz ihres miserablen Zustandes erkannte sie meine Unaufrichtigkeit.
„Vor wenigen Tagen hat der Wald gebrannt und ich habe sämtliches Hab und Gut verloren. Ich besitze rein gar nichts mehr von dem, was ich mir zum Überleben zusammengehäuft habe." Erneut scheiterte sie daran, sich vor mir aufzubauen. In ihrer Not, stützte sie sich am Glastisch ab und riss dabei die Flaschen zu Boden. Betrübt sah sie dabei zu, wie ihr kostbarer Wein aus der Flasche tropfte und die Flüssigkeit sich in den Teppich sog. Der Verlust schürte ihre Wut noch mehr.
„Du besitzt die Frechheit, dich in das Haus zu begeben und verlangst von mir, dich mit offenen Armen in Empfang nehmen? Deine heile Welt findet in deinen Phantastereien statt! Das hier ist die Realität!" Ihre polternde Stimme sandte Furcht durch meinen Körper und ich versuchte nicht paralysiert zu wirken. Bis jetzt schien sie Herrscher ihrer Gemütsbewegungen gewesen zu sein, aber dieser jähe Zorn schien auch sie zu überwältigen. Ein Tobsuchtanfall tanzte in ihren Augen, den sie kaum zu mäßigen bewältigte.
Davon ließ ich mich heute keinesfalls einschüchtern. Die Worte, die sie mir über Dad um die Ohren gefegt hatte, verletzten mich und kehrten meine Nachgiebigkeit in den Hintergrund. Er war kein Feigling, aber dafür war sie einer. „Ich gehe auf dich zu, aber wieso kommst du mir nicht entgegen?"
Wutentbrannt fuhr sie sich durch das zerzauste Haar, dass ihr einst in großen Locken über die Schulter gefallen war. In ihrem Gesicht erkannte ich eine neue Emotion. Verletzlichkeit schimmerte genau dort, wo sich sonst Hass und Trotz spiegelten. Gewiss führten mich meine Augen in die Irre, denn der Ausdruck verbleichte, als sie einmal blinzelte.
„Ich will dich nicht mehr wiedersehen, verstanden? Steck' deine Nase noch ein einziges Mal durch diese Tür und... Arceus bewahre!" Ihre Stimme kippte. Sie tastete nach einem Glas, warf, verfehlte mich um Meilen und es zerschellte an der Wand im Gang in tausend Scherben. „Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig!" Bevor die Lage weiter eskalieren konnte, setzte ich einen vernünftigen Punkt.
„Ich gehe. Das hier hat doch alles keinen Sinn mehr." Das waren nicht nur bedeutungslose Worte, sondern viel mehr meldete sich mein Herz zu Wort. Mit bedachten Schritten trat es aus der Dunkelheit und sprach so, dass es mit Garantie auf keine tauben Ohren stieß.
Meine Mutter wurde leise. Man hörte nur mehr das stetige Ticken der Kuckucksuhr. „Erlaubst du mir zum Abschied wenigstens noch ein paar Worte?" Das erste Mal seit Jahren hörte sie mir zu. „Als Dad damals abreiste und nicht mehr wiederkam, warst nicht nur du verletzt. Warum hast du mich von dir gestoßen? Was habe ich getan, dass wir so enden?" Diese Frage brannte wie Säure in meinem Hals. Diesen letzten Wunsch wollte sie mir nicht erfüllen. Das milde Schweigen, mit dem sie mich strafte, haftete wie eine Bürde an mir. „Wie dem auch sei. Ich gehe und werde mich nicht mehr sehen lassen, so wie du es möchtest."
„Hoffentlich verreckst du dort draußen!" Wie eisiger Wind, der den Frost auf eine Fensterscheibe hauchte, erreichten mich ihre Worte in meinem Nacken. „Ich hoffe auch."
Im Gang überraschte mich ein in die Ecke getriebenes Wesen. Mein Verfolger stand wie eine Statue neben der Kommode und schien mit den Fließen verschmolzen zu sein. In Rockos Gesicht zeigten sich keine Regungen, aber etwas von seiner gesunden Farbe war der Blässe gewichen. „Willkommen in meinem Leben, Rocko." Ich versicherte eher mir als ihm, dass mir Normalität ein Fremdwort war. Irgendwie streichelten mich diese Worte und besänftigten den Orkan in mir.
Die Scherben verteilten sich großzügig über den Flur. Rocko schenkte ihnen keine Aufmerksamkeit, obwohl er mit einem Schritt nach rechts drinnen stehen würde. Tröstend wollte Pikachu seinen Kopf an meine Wangen legen. Ich wich ihm aus und mein langwieriger Partner purzelte in Rockos Arme. „Entschuldigt mich." Durch die speerangelweite Tür drangen Rufe der Freiheit und lotsten mich aus dem Haus. Ich tat einen Tritt nach vorne, beschleunigte, bis ich rannte. Rocko gewann wieder Oberhand über seine Stimme, aber seine Worte prallten wie Schneebälle an einer Fensterscheibe an mir ab.

Der Wald war ein einziges Labyrinth. Bäume stellten sich mir in den Weg und Wurzeln schienen mir die Beine stellen zu wollen. Immer wieder strauchelte ich. Mein Orientierungssinn schien sich schlafen gelegt zu haben. Die Blätter erschauderten mit dem aufkommenden Wind, welcher ein hämisches Lachen auf seinem Rücken trug. Er ließ sich in den Zweigen nieder. Du Narr, hallte es zwischen jedem Windzug. Der Wind glich einem Scharfschützen. Er feuerte seine Kugeln ab und versuchte mich zu treffen, aber alles federte an mir ab. Ich fühlte mich taub.
Erschöpft sank ich gegen einen Baumstamm. Frust und Wut kochten hoch und ich hämmerte wie besessen mit den Fäusten auf die Rinde ein. Die Haut platzte und blutete. Wie ein wildgewordenes Wesen schrie ich mir den Zorn von der Seele, bis meine Stimme versagte und ich mich ausgelaugt gegen den Stamm lehnte.

„Emma!" Der Wind wirbelte meinen Namen zu mir, stupste mich liebevoll an und ermutigte mich, aus dem Schatten zu treten. Ich weigerte mich. „Emma!" Die Brise zog mit meinem Duft im Gepäck zu Rocko hinfort. Pikachu würde den Geruch sofort identifizieren und mich aufspüren. Er hatte einen exzellenten Geruchssinn und gerade in solch einer Situation bemühte sich die Elektromaus um das Doppelte. Ein Gefühl der Geborgenheit umwob mich, obwohl niemand da war. Sie suchen nach dir, tadelte der Wind. Stumm starrte ich auf Moos und Farne, die dieser Wald beherbergte.
„Emma." Rockos Stimme war so zart besaitet, dass mir Tränen in die Augen stiegen. Sie klang wie ein Stück Hoffnung, an dass ich mich in der tiefschwarzen Dunkelheit klammern konnte. „Du bist mir auf die Schliche gekommen. Ich wollte allein Ordnung ins Chaos bringen." „Und ich habe beschlossen, dass zu ignorieren." Rocko hockte sich vor mich hin. Ihm misslang der Versuch, Blickkontakt herzustellen. „Das ist nicht gerade empathisch", meinte ich. Er nickte. „Ich weiß", wisperte er liebevoll, „und das tut mir auch leid."
Seit der Begegnung mit Rocko hetzte ich durch das Labyrinth meines Lebens, ständig mit dem Gefühl von Furcht auf den Fersen. Jetzt, wo ich in eine Ecke gescheucht wurde, musste ich dem jahrelangen Feind in seine dunklen Augen schauen. Gierig schien er sich die spröden Lippen zu lecken. Mir war mehr als bewusst, dass ich diesen Kampf verlieren werde. Die Ängste waren barbarisch. Hätte ich mit einem ausgeklügelten Plan höhere Chancen auf Erfolg gehabt? Vielleicht, aber deine Galgenfrist ist abgelaufen, säuselte der Wind.
„Dir tut es leid? Was genau?" Wut drängelte sich an mich und legte mir die Hand auf meine Schulter. Ich blickte Rocko scharf an. „Dass die Situation mit meiner Mutter ausgeartet ist, oder dass ich zwingend mit ihr reden musste, weil du dir eingebildet hast, dass sich das Blatt zum Guten wendet? Oder dass du Katrin ausgefragt hast?" Fragen über Fragen sprudelten wie aus einer Quelle aus mir heraus.
Die Wildheit flaute ab. „Deine Gutmütigkeit in allen Ehren, aber wieso lässt du mich nicht einfach in Frieden?" Ich strich mir aufgebracht eine Haarsträhne aus meinem Gesicht. „Denkst du, ich hätte nicht versucht es dir zu erzählen? Du bist die erste Begegnung, die mich nicht durch die Finger rutschen lässt. Ich habe dir ungewollt so viele Hinweise gegeben. Erst am Heimweg wurde mir das klar und ich erschrak vor mir selbst." Die Wahrheit kam langsam an das Tageslicht. „Ich ertrug den Gedanken nicht, dass sie dich tyrannisieren konnte, weshalb ich dich schützen wollte. Du hast das alles nicht verdient."
Benommen kam ich auf den eingeschlafenen Füßen zum Stehen. „Genauso wenig mich als ein Häuflein Elend vor dir stehen zu sehen." Mein Blick wurde unscharf und bevor ich es verhindern konnte, jagten Tränen meine Wangen hinunter. Rockos aufrechte Haltung schmolz dahin wie Eis im Sommer und er zog mich behutsam in seine Arme. „Wolltest du das alles hören? Bist du mir deshalb den weiten Weg gefolgt?" Meine Stimme klang brüchig. Die Armee vor meinem Herzen schien ihre Waffen niedergelegt zu haben und ich war wehrlos. Meine Soldaten gaben die Verteidigung auf. Gegen Rocko war Widerstand zwecklos.
Ich hatte ihm Unrecht getan. Diese dunkle Wolke hatte mich so sehr in Beschlag genommen, dass ich nur mehr trübe sehen konnte. Rocko war zunächst nur eine Silhouette, aber jetzt sah ich ihn glasklar. „Es tut mir schrecklich leid", schluchzte ich. „Du hast meine ganze Wut abbekommen, dass wollte ich nicht." „Sh, dass weiß ich doch..." Sanft strich er mir über den Rücken. „Du kannst doch auch nichts dafür." „Du musstest es an jemanden auslassen. Ich bin erleichtert, dass du dich sicher genug fühlst und es bei mir tust."
Schweigen legte sich in die Lichtung und plötzlich fühlte sich alles federleicht an. „Hörst du mir zu, Emma?" Ich nickte. Rocko stützte sein Kinn auf meinem Kopf ab, fast so, als ob er vermeiden wollte, dass ich vor seinen Worten davonlaufe. „Ich bin dir deshalb gefolgt, weil ich mir ernsthafte Sorgen gemacht habe. Die Befürchtung war zu groß, dass du für einen Augenblick unachtsam bist und dir etwas zustößt. Umso erleichterter bin ich, dich Wohlauf gefunden zu haben."
„Was jetzt?" „Jetzt", er schien seine Worte weise zu wählen, „jetzt ziehen wir hier weg und erkunden Sinnoh." Ich löste mich aus der Umarmung. „Das klingt gut. Denn eines ist definitiv klar", ein letztes Mal ließ ich meine Augen durch den Wald gleiten, „hier will ich nicht mehr zurück." „Lass uns gehen."

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