Kapitel 17

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Auf der Suche nach meinem Pokédex, purzelte das alte Notizbuch aus meinem Rucksack. Ich strich sachte über den Einband des in Mitleidenschaft gezogenen Büchleins. Die Seiten wellten sich, seitdem der Rucksack im Fluss baden war. Glücklicherweise verrann die Tinte nicht zu stark und der Großteil war noch lesbar. Insofern man Herr der alten Schrift war.
Seit Erzelingen kam ich mit dem Buch nicht mehr in Berührung. Nicht, dass ich das unbedingt wollte. Weder im Museum noch in den Bergwerken, konnte man mir Auskunft über die Schriften geben. Das Betrachten der Skelette, den Kunstwerken und Arbeiten aus erblassten Tagen hinter Vitrinen ließen leise Zweifel entstehen. Bildete ich mir auf den Notizen zu viel ein?
Es war furchtbar enttäuschend, dass ich weder vor- noch zurückkam. Das alleinige Besichtigen des ledernen Umschlags erwärmte diese Niederschläge erneut. Um den Band knüpfte ich vor langer Zeit eine Schnur, dass die Notizen im Zaum hielt. Durch das Flusswasser quoll das Papier etwas auf, verursachte Risse an einzelnen Stellen. Für jeden war das zerfetzte Etwas so gut wie hinüber.
Ich befreite die Seiten von ihrer Falle, schlug sie auf und blätterte ziellos darin herum. Irgendwann blieb ich an einem Eintrag hängen, auf dessen Seite ein Polaroid der Statue Dialgas klebte. Das legendäre Pokémon? Der Herrscher der Zeit? Hatte ich nicht gehört, dass dieses Denkmal in Ewigenau beheimatet war?
Um mich vor der Abendkälte zu schützen, streifte ich in meine Jacke, schlüpfte in die Schuhe und gab Rocko kurz Bescheid, dass ich eben diese Statue sehen wollte, die hier als Kultstätte gehuldigt wurde.
Am Empfang der kleinen Herberge hing ein Stadtplan und prägte mir den Weg gut ein. „Zweite Straße rechts und dann der Nase nach, stadtauswärts", murmelte ich. Pikachu spitzte seine Lauscher und ließ den Blick über die große Karte schweifen. „Um zehn schließen wir die Pension. Sei pünktlich wieder da", informierte mich noch die Rezeptionistin am Schalter, als ich mich Richtung Tür bewegte.
Wie ein Mantra wiederholte ich die Route, bis die hochgebauten Siedlungen den Einfamilienhäusern weichen mussten und für die Natur schon mehr Platz geschaffen wurde. Die Bewohner ließen den Marktplatz unberührt, grenzten das Pflasterstein, welches den Weg markierte, mit einem dünnen Seil ein und schufen der Natur in der Stadt seinen Freiraum. Wegweiser zeigten in alle erdenklichen Richtungen, wiesen auf Pfade, die auf Bergspitzen führten, enthüllten Orte, dessen Namen ich noch auf keiner Karte eingezeichnet gefunden hatte. Unumgänglich warf sich mein Blick auf das Denkmal.
Auf einem Podium ruhte die besagte Statue, um die sich die wohl berühmteste Legende in Sinnoh häkelte. Schweinwerfer belichteten Dialga, deren Höhe man mit einem zweistöckigen Haus messen konnte, und ließ sie im dunklen Hintergrund bedrohlich wirken.
„Unglaublich", hauchte ich. Pikachus warmer Atem streifte meine Wange. Die aus Stein gemeißelte Figur war ein Abbild blühender Fantasie der damaligen Seelen, die hier in Sinnoh lebten. Oder betrieben die Künstler Recherche bei Augenzeugen, um ein Ebenbild für die Nachfahren zu schaffen?
Vorne auf Dialgas Brust prangte sein Schild mit seinem großen Edelstein als kleine Zierde. Seine Konturen wurden mit dem feinsten Werkzeug herausgearbeitet. Fast schon vernahm ich das Klopfen des Hammers auf die Meisel von den damaligen Künstlern und Handwerkern. Ich malte mir aus, wie die Meisel den wunden Punkt des Felsen erwischte und ihre feinen Linien stetig das Pokémon formten. Jeder Hammerschlag wurde Zeuge der Lebendigkeit dieser Wesen.
Majestätisch hatte Dialga den Kopf zum Himmel geneigt. „Auf der östlichen Seite des Berges steht Palkia. In Elyses", erinnerte ich mich blass an die Geschichten in den zahlreichen Büchern, die ich in meinen Kinderschuhen verschlungen hatte.

Nebel fädelte sich zwischen den Beinen der Statue hindurch und verbreitete sich über den verlassenen Marktplatz. „Wo kommt der denn her? Die Witterung passt dafür gar nicht." Schwaden schmiegten sich verführerisch an die Bildhauerei. In den Nebelfetzen hingen die staubigen Szenen meiner letzten Begegnung mit dem roséfarbenen Ding. Die Kreatur, die es barg, war mir zwielichtig. Ich tat einen Schritt zurück, setzte zum Weglaufen an, da blitzte die Kugel bereits auf. Grauen war mein jetziger Zeitgenosse. Das letzte Beisammensein flößte mir mehr als nur ein Flaues Gefühl ein.
Dieses Mal verzichtete es auf eine Inspektion. Es fegte auf mich zu und schlug eisige Wurzeln in meiner Brust. Benommen stolperte ich, kämpfte gegen das entstehende Eis in meiner Brust an. Mit einem tiefen Atemzug schlug ich meine Augen auf und fand mich im Dunklen wieder. Waberndes Nichts streifte mich. Die Diesigkeit schien seine dunkelste Kleidung hervorgeholt zu haben. Schlingen ergriffen meine Beine. Ich strauchelte, stürzte unglücklich und schürfte mir am Boden die Knie auf.
Wie aus Erz gegossen stierte Pikachu vor sich her. Der Vorfall wiederholte sich, nur saß er gemeinsam mit mir in der Klemme. Das Eis in mir löste sich in Dunst auf. Erbarmung? Es war, als hätte mich jemand mit bloßen Händen am Hals gepackt, mich plötzlich losgelassen und ich holte gierig Luft. Meine Hände bekamen etwas Kalt-Feuchtes zu fassen. Konnte ich mich dagegen stützen? Eine Mauer? Oder doch nur ein Fantasiegebilde? Meine Finger fuhren durch die Rillen, dort, wo Stein auf Stein gesetzt wurde. Es wackelte. Der Boden, die Mauern, alles schien zum Leben zu erwachen und sich auf ein Eigenleben vorzubereiten. Je weniger ich sah, umso mehr spürte ich.
Der Dunst lichtete sich und zwischen zwei dicken Schwaden zeichneten sich Treppen vor dem Schwarz. Treppen die in dunkelgrauen Silhouetten zerflossen. Von ihnen triefte ein Säuseln. Kalter Schweiß rann in Tropfen meinen Rücken hinab. Das Bild war von einladend weit entfernt. Das Säuseln gedieh zu einem Flüstern. Worte, aus einer undefinierbaren Sprache drangen an mein Gehör. Worte, die Forderungen stellten und Befehle erteilten. An mich? Oder wurden sie willkürlich in den Raum geworfen? Für wen galten sie?
Vor mir schlug ein riesiges Auge seine Lider auf. Ein Schrei entfloh meinen Stimmbändern und ich taumelte rücklings. Es wanderte um mich, wie ein Mensch um einen Gegenstand im Museum. Ihm folgten tröpfchenweise zahlreiche kleinere, die aus der schwarzen Kloake ihre Augen öffneten, als wäre ich eines ihrer kostbarsten Stücke. Jeder von ihnen spiegelte eine neue Emotion, die von Freude, über Trauer, bis zur blinder Wut reichten. Jedes hielt seine Forderungen an mich bereit. Jedoch schien keiner mir ein Härchen krümmen zu wollen.
Ein Zischen, welches wie ein scharfes Kommando aus den Ecken über uns kam, schufen mir die Augen vom Hals. Sie schienen etwas Mächtigeres zu scheuen, was weder sie noch ich sehen konnten. Ihre Reaktion verübelte ich ihnen nicht. Würde ich mich in die Finsternis auflösen können, würde ich keinen Wimpernschlag zögern.
Der Boden teilte sich und eine Luke tat sich auf. Ich erntete das Gefühl, frei zu fallen. Der Dunst verfärbte sich in lochten grünen und grauen Kolorierungen. Gezwungenermaßen blinzelte ich gegen das einfallende Licht, bis meine Augen sich auf die neuen Lichtverhältnisse einließen. Bilder von verschiedensten Winkel einer Ruine pflanzten sich in meinen Kopf. Altes Gemäuer, Pflanzen, die über die eingefallenen Ziegelmauern wucherten, Berge und ein tiefes Tal, in dem diese Ruine versteckt sein musste. Oder war ich bereits dort? Stand ich inmitten dieser in die Luft projizierten Ruine und wusste nichts davon, weil um mich nur Dunkelheit waberte?
Mich zog es immer weiter vom zentralen Geschehen weg, zeigte mir einen Wegweiser auf dem glasklar Trostu eingraviert war. Die vom Fall und dem raschen Rundflug schwindeligen Gedanken rutschten gemeinsam mit mir die holprige Mauer hinab. Ich zog die Beine an und versuchte dem Vorfall eine Geltung zu geben. Was bedeuteten diese vielen Rätsel? Fügte man einzelne Fakten zusammen, ergaben sie weniger Sinn, als sie getrennt zu sehen. Was, wenn ich mehr sehen könnte oder sich das Schwarz in Offenbarungen verzauberte, wenn ich strenger darüber nachdachte? Meine Gedanken rasten in Kreisen, jagten einander und überholten sich gegenseitig. Schwindelgefühl überwältigte mich und scheuchte sogar die vielen Erklärungsmethoden, die mir in den Sinn kamen.

Ich hob den Kopf. Das Summen der Schweinwerfer und das grelle Licht, dass sie verbreiteten, begleitete mich wieder. Anstelle der kaltfeuchten Ruinenwand lehnte ich am Denkmal. Die Gedankenreise wäre eine unverblümte Lächerlichkeit, wären meine beiden Knie unverwundet. Noch am wackeligen Pfad zwischen Realität und der Gedankenspinnerei drehte ich mich um. Meine Finger malten die Gravur am Sockel nach. War sie zuvor auch schon eingemeißelt? Sie wurde in der alten Schrift verfasst, aber daneben hatte jemand Fremdes eine Übersetzung hineingeritzt. Die Handschrift war eine komplett andere als die des Bildhauers.
„Die Schöpfung von Dialga, dem Meister der Zeit... im Lachen steckt Weinen.... Und umgekehrt verhält sich die Zeit. Die gleiche Zeit fließt weiter ... der Segen von Dialga sei mit allen." Die Deutung war kryptisch. An vielen Stellen war der Putz des Sockels abgeblättert, oder das stürmischere Wetter nagte die Schrift ab. Ich wurde aus dem Trip hierher nicht schlauer.
Erschöpft lehnte ich mich gegen Dialgas Vorderbein. Ich legte meine Hand auf den Sockel und neigte den Kopf zum Himmel. Der Mond brach hinter den Wolken hervor und teilte seinen Zauber mit der Welt.
Dann ergriff ich etwas Dickes, aber leichtes. Verwundert tastete ich über raues Papier und hob einen Umschlag auf, drehte ihn um. Es stand nur ein Name auf der Vorderseite. Kira.
„Finger weg von Dingen, die nicht dir gehören!", fauchte prompt eine Stimme und vor Schreck ließ ich den Brief fallen. Er fiel vor die Füße des vermutlich rechtmäßigen Besitzers. Leise fluchte das dürre Ding, als es mit den Fingern nach dem Kuvert langte. Ihre faden Haare hingen ihr in ein paar Knoten über die Schulter. Ihr zerschlissenes Shirt war übersät mit Schmutzflecken und es sah aus, als hätte sie seit Tagen keinen echten Menschen gesehen. Aber anstelle der Furcht, begleitete sie Hass. Das streunende Mädchen stopfte den Umschlag in ihre hintere Hosentasche.
Die zerschlissene Gestalt musterte mich ungeniert, aber das beruhte auf Gegenseitigkeit. Kira schien zwar aus einem anderen Holz geschnitzt zu sein, jedoch zweifelte ich nicht daran, dass wir von gleicher Art stammten.Bildfetzen der ersten Tage allein im Wald nach meinem Entkommen zogen an meinem inneren Auge vorbei. Viel zu rasch verlor meine frische Wäsche an Sauberkeit.
Pikachu versuchte seine Fassung aufrecht zu erhalten. Despektierlich schnaubte sie. „Unglaublich!" Sie machte kehrt und zog von Dannen.
Meine Stimme schien sich erholt zu haben: „Bist du Kira?" Eine müßige Frage, aber ich wusste nicht, wie ich sie zum Anhalten motivieren konnte. „Hat dich nicht zu kümmern. Du solltest den Namen schnell aus deinem Gedächtnis streichen, der ist nichts für dich." Pikachu verdross ihr keifender Unterton. Ich kam ihr trotzdem mit Freundlichkeit entgegen und möge sie noch zu geheuchelt sein.
„Behalte dein Biest im Zaum", fügte sie nonchalant hinzu. Pikachu sprang von meiner Schulter, nicht dem Umstand geschuldet, auf Kira loszugehen, aber sie zauberte plötzlich einen Pokéball hervor, ließ ein Impoleon materialisieren und mit Hydropumpe auf mich zielen. Pikachu agierte. Das Blau, welches im künstlich erzeugten Licht glitzerte, wurde von einem Donnerblitz pariert.
,,Seid ihr noch bei Trost?", stürmte eine unbekannte Stimme ins Gemetzel. Hinter mir tauchte ein tatteriger Herr mit einem Gehstock bewaffnet auf. Er schleuderte ihn mit entgegen. Gerade noch so konnte ich mich darunter hinwegducken. Ein dumpfer Prall kündigte seinen Aufschlag am Boden an. „Das hier ist ein heiliger Platz! Du schändliches Gör kannst nicht einfach kämpfen!" „Aber...", erwiderte ich, wandte mich an Kira. Aber dort wo sie sein sollte, befand sich nur noch gebrochenes Gras. Wie konnte sie so schnell entschwinden? Sie war wie der Nebel, der prompt auftaucht und sich wieder verzog. „Hast du keinen Manieren?", wütete der Mann weiter. Hätte er noch mehr Gehstöcke zur Verfügung gehabt, würde er sie mir einen nach dem anderen um die Ohren fegen.
,,Das Mädchen...", stammelte ich hilflos, kratzte aber keine anständige Entgegnung zusammen. „Hier ist um diese Zeit niemand anderes, außer du. Sieh zu das du Leine gewinnst!" Das tat ich auch. Sein Zorn schien in den nächsten Sekunden nicht zu verrauchen. Ich ließ Pikachu auf meine Schultern kraxeln und suchte das Weite.

Der darauffolgende Morgen begann mit einem Schrecken. Durch das Radio berichtete man ganz Sinnoh die Erbeutung des Adamant-Orbs aus dem Ewigenauer Museum. Nur wenige Anrainer wagten es auf die Straße. Im südlichen Teil der Stadt verhielten sich die Ewigenauer weniger angespannt.
Ein Streifenwagen überholte uns und steuerte auf den nächsten Marktplatz zu. Wir schlüpften hinterher. Menschen kamen aus allmöglichen Gossen, um den Offizieren ihr Gehör zu schenken. „...deshalb bitten wir Sie, auf die Wache zu gehen, sollte Ihnen etwas Abstruses oder Abnormales aufgefallen sein. Möglicherweise gibt es Indizien, dass die Täter schon vor Nachteinbruch durch die Straße gepirscht sind." Das Megafon verstummte mit einem Quietschen, ehe sich die Menge lüftete, sich Menschen auf den Heimweg begaben oder sich in kleinen Grüppchen zusammen tummelten.
„Wie konnte dieses wertvolle Stück aus den Händen des Sicherheitssystems genommen worden sein?" „Die Wächter der Schicht sind spurlos verschwunden." Satz um Satz drang zu mir durch.Vor mir lag ein Puzzle mit hunderten von einzelnen Teilen. Ich konnte mir keinen Reim auf die Ereignisse machen, aber irgendetwas braute sich zusammen.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Nov 20, 2019 ⏰

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