Im Dezember neigte das Café immer wieder aus allen Nähten platzen zu drohen. Ich war froh, dass die Kunden, sobald sie jedenfalls mit ihren Heißgetränken versorgt waren, still und leise an den Fenstern saßen und das Treiben draußen beobachteten. Rue war da, wie an fast jedem anderen Tag auch, und lernte, jedenfalls wirkte es so, als täte sie dies. Wir hatten seit Tagen kaum mehr als das nötigste gesprochen.
Und während ich langsam jeden einzelnen Gast darum bat langsam zum Schluss zu kommen, goss ich ihr noch eine weitere Tasse frischgebrühten Kaffee ein und sie lächelte mir so dankbar zu, dass ich für einen kurzen Moment befürchtete, gleich die Beherrschung zu verlieren. Clara war bereits vor einer Stunde gegangen und alles was mir noch zu tun übrigblieb, war das sauberwischen der Geräte, Tassen und Tische. Als das Glöckchen über der Tür ein weiteres Mal klingelte, hob Rue erschrocken den Kopf. »Oh, Shit«, murmelte sie und machte Anstalten ihre Unterlagen in ihrem Rucksack zu verstauen. »Tut mir leid, ich bin sofort weg.«
»Ist schon in Ordnung.« Als mich ihr unsicherer Blick streifte, zuckte ich bloß mit den Schultern. »Ich habe noch etwas Kaffee über und eigentlich sollte ich auch noch lernen, wenn es dich nicht stört.«
Rue strich sich das Haar hinter die Ohren und schob ihre Unterlagen zusammen, damit auch ich etwas Platz an dem Tisch finden konnte.
Noch nie, in meinem gesamten Leben nicht, hatte ich die Spätschicht so schnell beendet. Lediglich die Kaffeekanne und der Spender mit dem heißen Wasser standen noch nutzbereit zur Verfügung. Ich legte zwei Dollar in die Kasse und goss mir einen grünen Tee auf, ehe ich mich zu dem Mädchen setzte.
Rue rümpfte die Nase. »Tee? Wie langweilig.«
»Es ist grüner Tee.«
Sie hob ihre Tasse an. »Schwarzer Kaffee ist das einzig Wahre«, entgegnete sie und nahm einen Schluck. Ich lächelte, stellte mir einen Wecker für den Teebeutel und zog meine derzeitige Lektüre aus der Jackentasche. Statt sich wieder in ihre Unterlagen zu vertiefen, klopfte Rue mit dem Finger gegen die Tischplatte und ich wurde das Gefühl nicht los, dass sie mich beobachtete. Als ich den Blick hob, lag der ihre tatsächlich auf mir.
»Was ist?«, fragte ich, doch sie zuckte nur mit den Schultern und senkte den Blick wieder. Noch ehe ich weiter nachhaken konnte, vibrierte mein Handy und die ersten Gitarrenklänge von Bostons Piece of Mind erklangen. Ich stellte den Wecker aus und wollte gerade meinen Beutel aus der Tasse ziehen, als Rue zu lachen begann. »Wirklich? Du hast dir einen Wecker gestellt?«
»Der Koffeingehalt geht verloren, wenn man ihn länger als drei Minuten ziehen lässt«, verteidigte ich mich, doch meine Worte führten lediglich zu einem weiteren Lachanfall ihrerseits.
»Oh, Padawan«, lachte sie. »Du kannst so unfassbar niedlich sein.«
Ich spürte wie mir Hitze ins Gesicht stieg. »Nicht jeder mag sein Getränk so bitter wie du.«
Sie lächelte so breit, dass ihre Zähne hervorblitzten. »Wie ich schon sagte: Niedlich.«
Ich beschloss, das Thema einfach zu wechseln. »Was machst du eigentlich?«
»Ich lerne«, antwortete sie und streckte mir die Zunge aus, doch dann klappte sie ihr Buch zu und schob es mir zu. Gutachten über Mindestanforderungen an die Haltung von Säugetieren prangte auf dem grünen Deckblatt. Ich nahm es in die Hand und blätterte die Seiten durch.
»Du arbeitest also mit Tieren?«
»Jedenfalls arbeite ich darauf hin, es eines Tages zu tun.« Ich reichte ihr das Buch zurück und sie schlug es wieder auf.
»Was sind denn Tenreks?«
»Um es mal ganz grob zu sagen – « Rue nahm tief Luft. »Auf Madagaskar lebende igel-, maus- oder otterähnliche Säugetierart.«
»Wow, das ist ziemlich breit gefächert.«
»Sehr lange Zeit wurden sie einfach madagassischer Igel genannt.«
»Sprudelt aus dir immer so viel Tierwissen heraus?«
»Ich kann auch echt viel über Serien sprechen«, entgegnete Rue und klopfte mit ihrem Stift gegen das Buch. »Was sind deine geheimen Klugscheißer-Momente?«
Ich überlegte einen Moment lang, durchforstete mein Gedächtnis nach all den Dingen, mit denen ich leidenschaftlich gerne meine Zeit vertrieb. »Classic Rock, vermutlich.«
»Vermutlich«, zog sie mich auf und nippte an ihrer Tasse. »Der beste Song?«
»Diese Entscheidung möchte ich nicht treffen.« Ich nahm ebenfalls einen Schluck von meinem Tee und musterte ihr Gesicht über den Rand der Tasse hinweg. »Kannst du dich denn für ein Tier entscheiden? Ein Buch? Eine Serie oder einen Film?«
»Plumploris. Six of Crows. Supernatural. Rouge One.«
Für eine winzige Sekunde war ich sprachlos, während mein Gehirn versuchte die vielen neugewonnen Informationen einzuspeichern. »Gut: Simple Man.«
Rue nickte lächelnd, dann wanderte ihr Blick zu der Uhr. Es war spät, doch alles in mir sträubte sich, auch nur einen Gedanken an die Arbeit, die mir morgen früh bevorstand, zu verschwenden. Alles was zählte war sie; alles war ich wollte, war endlos viel Zeit mit ihr zu verbringen.
Doch Rue seufzte und klappte ihr Buch zu. »Ich glaube, wir sollten gehen.«
Ich versuchte die aufkeimende Enttäuschung zu verbergen, auch wenn ein Teil von mir wusste, dass es die richtige Entscheidung war. »Ich mach nur mal eben den Laden fertig.« Und zu meinem großen Erstaunen wischte Rue über alle Tische und stellte die Stühle auf, während ich die Kasse abrechnete und die letzten Geräte säuberte. Und als wir in die kalte Nacht hinaustraten, stießen unsere Arme aneinander, doch keiner von uns machte Anstalten, sich viel weiter von dem anderen zu entfernen.
DU LIEST GERADE
Coffee Talks
Подростковая литератураWenn Rue das Ann's betrat, fragte niemand, was sie haben wollte - es würde immer der größte Filterkaffee in einer Tasse werden. Als Charlie im Ann's anfing, wusste er nicht, dass er jemandem wie Rue über den Weg laufen würde. Rohfassung aus dem J...