Sobald Clara begann, dass Ann's zu schließen machten wir beide uns ebenfalls auf den Weg. Unsere Arme berührten sich, während wir auf der Suche nach einer Bar, durch die Straßen schlenderten. Rue hatte sich die Kapuze über ihre Mütze gezogen und verdeckte mir somit die Sicht auf ihr Gesicht, auch ich hatte den Kopf eingezogen, in dem Versuch mein Gesicht vor der beißenden Kälte zu schützen. Bis wir allerdings einen Pub erreichten, waren meine Hände zu roten Klumpen gefroren und mein Gesicht prickelte, in der plötzlichen Hitze des Kellers. Rue zog die Kapuze herunter und präsentierte auch ihr rötlich angelaufenes Gesicht, als sie sich die grüne Mütze vom Kopf zog, elektrisierte sich ihr Haar und bauschte sich mit einem Mal auf. »Das nenne ich arschkalt«, verkündete sie und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Das Gewirr auf ihrem Kopf war davon relativ wenig beeindruckt.
Ich nickte und sah mich in dem vollen Lokal um. »Da hinten ist noch etwas frei.« Rues Blick folgte meinem Finger in die angewiesene Richtung, dann ergriff sie meine kalte Hand und zwängte uns zwischen den Stühlen und Tischen bis ans andere Ende der Bar. Wir entledigten uns unserer Jacken und als wir beide schließlich auf den Hockern saßen, trafen sich unsere Blicke. Mir stockte der Atem und ich fühlte mich wie damals, an dem Tag, als ich sie das erste Mal gesehen habe; wie vor einigen Jahren, als Betty Lawrence mich das erste Mal küsste; wie damals, als ich das erste Mal Sex hatte und feststellen musste, dass die Welt danach genau dieselbe war wie vorher.
»Ich bin seit Ewigkeiten nicht mehr in irgendeiner Bar gewesen«, gestand ich und öffnete die Karte mit der Getränkeliste.
»Da haben wir wohl etwas gemeinsam«, murmelte Rue. »Die letzte Zeit war eher trist.«
Ich hob den Blick, musterte ihr Gesicht. »Wie geht's dir?«
Rue zuckte mit den Schultern und zeigte auf eins der Biere. »Das nehme ich.«
»Ich denke, ich tue es dir nach.«
»Wie langweilig.«
Ich lächelte. »Du kannst dir nicht das beste aus der Karte nehmen und es für dich beanspruchen.«
»Kann ich wohl.« Sie streckte mir die Zunge heraus und verkündete: »Aber gut, da du wohl nicht so erprobt bist, mit der Kunst „Bestelle immer etwas anderes", werde ich dir das Bier überlassen und ein anderes aus der Liste wählen.«
»Du bist die gütigste Person die ich je kennengelernt habe.«
Auch sie musste lächeln. »Beim nächsten Mal werde ich nicht so gutherzig sein, also wähle schnell.«
Wir bestellten unsere erste Runde und sobald die Biere ankamen, stießen wir die Gläser aneinander und zeigte auf ein weiteres Bier in der Liste, dessen Name mir rein gar nichts sagte. »Gut gespielt«, verkündete Rue und nahm einen Schluck von ihrem Bier, verzog das Gesicht und nahm direkt einen zweiten.
Ohne sie aus den Augen zu lassen, schob ich ihr meins zu. »Lass uns tauschen.« Sie musterte mein Gesicht, sah mir direkt in die Augen und verzog die Lippen. »Das würde dich zum Gewinner machen.«
»Vielleicht verleiht mir diese goldene Tat ja endlich den Meistertitel, auf den ich so lange schon warte.« Sie prustete, nahm allerdings trotzdem mein Bier an und schob mir stattdessen das ihre zu. Wir prosteten einander wieder zu und als ich dieses Mal von ihrem Bier nippte, versuchte ich bei dem herben Geschmack nicht ebenfalls das Gesicht zu verziehen.
»Wann war das letzte Mal, dass du mit einem Mädchen aus warst?«
Vollkommen überrumpelt von ihrer Frage, schwieg ich einen Moment lang, dachte nach. Ja, wann eigentlich? »Also vorweg vielleicht... ich gehe allgemein nicht sehr oft aus.« Ich nahm einen Schluck von dem Bier – inzwischen hatte ich mich an den Geschmack so gewöhnt, dass es mir schon fast schmeckte. »Es ist eine Weile her.«
»Du bist die Genauigkeit in Person«, sagte sie und rollte mit ihren Augen, doch gleich darauf, lächelte sie so herzlich, dass ich beinahe wieder in die Panikschiene von heute Vormittag zu fallen drohte. »Gehst nie aus, selten trinken – was tust du, wenn du nicht in der Uni bist oder mich mit Kaffee versorgst.«
Daran denken, wie es wäre, dich täglich mit Kaffee zu versorgen. »Wie ein Streber am Schreibtisch sitzen.« Sie lachte und ich stimmte mit ein. »Musik machen«, fügte ich hinzu und klopfte mit den Fingern auf dem dunklen Holztisch. »Ich würde gerne auch Musik unterrichten.«
»Was hindert dich daran?« Sie sah mich über den Rand des Glases hinweg an. Den Blick fest auf mich gerichtet.
»Englisch und Geschichte sind definitiv einfachere Studiengänge als Musik.«
»Fair Point.«
»Und du? Was tust du, wenn du nicht im Ann's bist?«
»Vorher habe ich ziemlich oft auf meinen Hund aufgepasst, eigentlich immer, wenn Mum wegmusste. Er hat immer diese gesamte Aufmerksamkeit für sich beansprucht und man hatte kaum eine Chance, sich irgendetwas anderem zu widmen, als ihm.« Ihr Blick verlor sich irgendwo zwischen der Holzplatte und dem ganzen, weiten Universum. »Ich lese auch außerhalb des Cafés relativ viel und wenn die Zeit es erlaubt, versuche ich Caro zu besuchen, aber die Tage an denen das funktioniert, werden immer seltener.«
»Erwachsen werden ist definitiv kein Zuckerschlecken.«
»Definitiv nicht.«
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Coffee Talks
Teen FictionWenn Rue das Ann's betrat, fragte niemand, was sie haben wollte - es würde immer der größte Filterkaffee in einer Tasse werden. Als Charlie im Ann's anfing, wusste er nicht, dass er jemandem wie Rue über den Weg laufen würde. Rohfassung aus dem J...