Ich war mir nicht sicher, wann genau es passiert war, aber wir hatten unsere Hocker näher aneinandergerückt und mit jeder Sekunde schienen wir uns näher und näher zu kommen. Die Köpfe zusammen über eine Karte gesteckt – während die zweite noch immer da lag, wo ich zu Beginn des Abends noch gesessen hatte – suchten wir nach Getränken, die wir noch nicht bestellt hatten. Mein Kopf fühlte sich bereits schwammig an und ich wusste, dass ich das Limit eines entspannten Abends definitiv erreicht und überschritten hatte, doch das war mir egal.
Also wählten wir zwei unterschiedliche Shots, stießen an und stimmten darüber ab, wer die bessere Wahl getroffen hatte. »Was hältst du davon, wenn wir tanzen gehen?« Rue lehnte den Kopf an meine Schulter und schloss die Augen. Ich lachte.
»Du siehst eher so aus, als würdest du gleich ein sehr langes Nickerchen halten.«
»Mh-hm«, machte sie. Ich hielt den Atem an, ihre Hand lag direkt neben mir auf dem Tisch. Vorsichtig strich ich mit den Daumen über ihre Finger, ihren Handrücken, ihrem Handgelenk; dann hielt ich inne.
»Wir sollten schnell los, damit du hier nicht einschläfst.« Sie reagierte nur mit einem weiteren »mhm« auf meine Worte. »Na, los. Wir besorgen dir Kaffee.«
»Kaffee wirkt bei mir nicht«, erklärte sie mir stattdessen und verschränkte unsere Hände miteinander. »Ich trinke ihn bloß, weil mir der Geschmack so gut gefällt.«
»Wow, ich denke eine kurze Enzugskur würde dir ganz guttun.«
»Unterstehe dich, diese Worte irgendwann auch nur noch mal zu denken«, entgegnete sie und richtete sich wieder auf. Plötzlich wieder hellwach, löste sie sich wieder von mir und hob stattdessen die Hand um einen der Kellner zu uns zu rufen. Also teilten wir die Rechnung auf, bezahlten getrennt unsere jeweils sechs Biere und den Shot und wappneten uns wieder für den einbrechenden Winter. Noch im Lokal hatte ich jegliche Hoffnungen, ihr überhaupt irgendwann mal wieder so nahe zu sein, bereits zur Seite geschoben und als abgehackt erklärt, mich damit befasst und es verkraftet, doch sobald wir in die eisige Nachtluft hinaustraten, hakte Rue sich bei mir unter und mich überkam das Gefühl, dass ich den Druck ihrer Hände bis in alle Ewigkeiten auf meinem Arm spüren würde.
Natürlich liefen wir nicht los, um noch in einem der Clubs zu tanzen. Rue steuerte ziemlich sicher auf die nächste U-Bahnstation zu und schon bald saßen wir in einem leeren Waggon, in dem es, im Vergleich zu draußen, wohlig warm war.
Rue reichte mir einen ihrer Kopfhörer-Stöpsel und steckte sich den anderen ins Ohr ehe sie ihr Handy entsperrte und ein Lied aussuchte. Beim Buchstaben »O« wurde sie letztendlich fündig und eine sanfte Mädchenstimme summte in unsere Ohren. Ich kannte weder das Lied noch kam mir die Stimme bekannt vor, doch sobald sie von ozeanblauen Augen zu singen begann, warf ich dem Mädchen neben mir unwillkürlich einen Blick zu. Rue selbst sah, wie so oft, aus dem Fenster und murmelte den Songtext vor sich hin. Als sie meinen Blick durch die Spiegelung bemerkte, drehte sie sich zu mir hin und lächelte. Ihre Wangen waren vom Alkohol gerötet und ihre dunkel geschminkten Augen schienen die Intensität der blauen Iris nur noch zu verstärken. Ich wusste, dass es gefährlich war, ihr so lange ins Gesicht zu blicken. Ich konnte spüren, wie ich mich in ihnen verlor, während ein Mädchen über genau das Gefühl sang, dass mich zu durchströmen schien. Unwillkürlich hielt ich den Atem an, während wir einander unentwegt in die Augen sahen.
»An der nächsten Station muss ich raus«,murmelte Rue. Ich schluckte schwer und nickte, wagte es aber nicht von ihrwegzusehen. Ihr Gesicht näherte sich meinem und für einen Moment, schien dieWelt nur noch aus uns beiden und dem Rasen meines Herzes zu bestehen. Das Atmenviel mir noch schwerer als zuvor. Als ihre Lippen die meinen berührten, fühltees sich fast so an, als sei dies alles gewesen, das meinem Körper noch gefehlthatte. Mit einem Mal konnte mein Herz wieder normal Blut durch meinen Körperpumpen, ich konnte atmen, so gut es beim Küssen eben ging. Mit einer Hand fuhrich ihr durchs Haar und ihre Finger krallten sich in meinen Pullover fest. Unddann, mit einem Mal, hielt die U-Bahn an und Rue löste sich atemlos von mir. »Folgemir nicht.« Sie schulterte ihre Tasche und verließ die Bahn, während ich ihrsprachlos hinterher sah. Sobald sie am Bahnsteig stand, drehte sie sich nocheinmal um, hob zum Abschied die Hand und lächelte.
Ich sitze in Philo und denke mir: Hättest du nur auf deine Lehrer gehört
DU LIEST GERADE
Coffee Talks
Roman pour AdolescentsWenn Rue das Ann's betrat, fragte niemand, was sie haben wollte - es würde immer der größte Filterkaffee in einer Tasse werden. Als Charlie im Ann's anfing, wusste er nicht, dass er jemandem wie Rue über den Weg laufen würde. Rohfassung aus dem J...