Wir standen in der Schlange beim Asiaten und warteten, bis wir dran waren. "Du sag mal", setzte Vincent dann an, "ist eigentlich alles in Ordnung bei dir. Ich meine nicht jetzt, sondern so generell. Du bist in letzter Zeit immer so schnell aus der Uni abgehauen und warst auch nicht so gut drauf." Also war meine Gefühlslage doch so offensichtlich? Ich schaute etwas verlegen zur Seite und versuchte mir die richtigen Worte zurechtzulegen. "Naja", setzte ich an und musste kurz überlegen. "Einem Freund von mir geht es zur Zeit nicht besonders gut." Das war immerhin nicht mal ganz gelogen. Trotzdem fühlte ich mich schlecht, weil ich nicht mal meinem einzigen richtigen Freund an der Uni von meinen Problemen erzählen konnte und wich seinem Blick aus. "Ein Freund, oder dein Freund?", hakte er nach. Was sollte das jetzt? Fragend sah ich ihn an. "Ich meine, ist es wirklich ein Freund oder bedeutet er dir mehr?", antwortete er, als er meinen Blick erkannte. Seine Fragen setzten mich unter Druck. Mir wurde warm und ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Nach einigen Sekunden flüsterte ich: "Ja, vielleicht bedeutet er mir mehr." "Und du bist sicher, dass er der Richtige sein könnte?" Meine Finger begannen zu schwitzen. "Vincent ganz ehrlich, was sollen all die Fragen?" Ich wusste nicht ganz weshalb, aber ich spürte Wut in mir aufsteigen. Diese ganzen Fragen, so ganz ohne Grund. "Nichts." Jetzt war er es, der meinem Blick auswich und einen Schritt Distanz zwischen uns brachte. Diese Situation war überaus merkwürdig und umso erleichterter war ich, als ich die Vibration meines Handys in meiner Tasche spürte. Mit schwitzigen Händen zog ich es heraus und entsperrte es. Eine Nachricht von Peter. Polizei hat den Typ. Kommst du her? Sofort änderte sich meine Körpertemperatur von Sahara zu Sibirien und der Schweiß auf meiner Haut kühlte ab. "Vincent, es tut mir leid, aber ich muss los. Es ist wirklich dringend." Ohne eine Antwort abzuwarten lief ich schnellen Schrittes aus dem Restaurant, ohne überhaupt etwas bestellt zu haben. Draußen steigerte ich mein Tempo und rannte nun durch die beleuchteten Straßen. Meine Füßen trugen mich an den Leuten vorbei während mir kalter Dezemberwind entgegen wehte. Komplett außer Atem erreichte ich die WG in Rekordzeit und klingelte. Es war Dennis, der mir öffnete. "Komm rein", mit einer Geste bedeutete er mir, einzutreten. Gemeinsam stiegen wir die Treppe hinauf und trafen im Wohnzimmer auf die versammelte Truppe einschließlich zweier Polizisten. "Ist das die fehlende Person?", fragte einer der Uniformierten. "Ja genau", antwortete Peter schnell. "Gut, dann sollten wir so schnell wie möglich los", sagte der selbe Polizist. Als alle zum Gehen ansetzten, blieb ich verwirrt stehen. Peter nahm mich am Arm. "Komm mit, ich erklär dir alles im Wagen." Durcheinander folgte ich ihm und nahm auf der Rückbank von Peters Auto neben Chris platz. Jay hatte ursprünglich darauf bestanden, selber zu fahren, aber da er so nervös war, hatte Dennis sich entschieden, mit ihm zu fahren. "Also", begann Peter und blickte kurz in den Rückspiegel. "Die Polizei konnte den Bastard orten und sie wissen jetzt wo er ist. Wir können mitkommen, aber wir sollen uns im Hintergrund halten. Geplant ist, dass die da rein gehen, Sep rausholen und am besten den Typen dort noch antreffen und mitnehmen, aber Hauptsache sie finden Sep." Nachdem er seine Erklärung beendet hatte, sah er noch einmal in den Rückspiegel, um sich zu vergewissern, dass ich verstanden hatte. Ich bestätigte mit einem Nicken. Eine Weile herrschte Stille. Mit einem kurzen Seitenblick sah ich zu Christian herüber, der etwas geknickt auf seinem Platz saß. "Du hättest nicht mitkommen müssen", flüsterte ich kaum hörbar, doch er hatte mich sehr wohl verstanden und drehte den Kopf zu mir. "Doch muss ich. Es ist doch nur meine Schuld." Sein Tonfall war kühl und beinahe unbeteiligt, doch seine Augen verrieten mir etwas anderes. In ihnen spiegelten sich Trauer, die von einer riesigen Selbstanklage überschattet wurde. Vorsichtig ließ ich meine Hand zu seiner wandern und wollte sie ergreifen, doch als ich sie berührte, entzog er sie erschrocken meinem Griff. "Ich kann das nicht", hauchte er. Überrascht zog auch ich meine Hand zurück und flüsterte nur: "Sorry." Ich wandte meinen Blick ab und sah betrübt aus dem Fenster. Die Lichter zogen in regelmäßigen Abständen vorbei. Wie konnte ich auch so naiv sein? Zu glauben, dass wir uns näher kommen könnten. Auf der restlichen Fahrt herrschte Stille. Wir fuhren hinter der Polizei her in ein Stadtviertel, in dem ich noch nicht gewesen war. Das war vielleicht auch besser so, denn die Häuser waren herunter gekommen und allgemein wirkten die Straßen nicht allzu einladend. Zudem war die Beleuchtung hier eher schummrig und machte die Situation noch beklemmender. Die zwei Streifenwagen hielten vor einem schäbigen Mietshaus, dessen Wände mit Graffiti beschmiert waren und die Beamten gaben uns zu verstehen, dass wir einige Meter abseits warten sollten. Einer der Polizisten kam zu uns herüber gelaufen und Peter stieg aus. Er unterhielt sich kurz mit dem Beamten und winkte mich und Christian dann aus dem Wagen. "Sie warten noch auf Verstärkung, dann wollen sie rein", sagte der Rotblonde zu uns. "Wir sollen hier bei den Autos bleiben und wenn was ist, geben sie uns bescheid", ergänzte er, als sich Dennis und Jay zu uns stellten. Jay war ein nervliches Wrack und trat unaufhörlich von einem Bein auf das andere. Aus dem Augenwinkel beobachtete ich Dennis, der ihm seine Hand auf den Rücken legte. Ein kurzer Blick zu Peter und Chris sagte mir, dass es auch ihnen nicht leicht fiel, untätig hier zu warten, doch es blieb uns nichts anderes übrig. Besonders Chris machte mir Sorgen. Aus seinem Gesicht war alle Farbe gewichen, was durch das fahle Licht noch unterstützt wurde und er verbarg die Hände in den Hosentaschen. Das heftige Zittern und nervöse Herumspielen mit den eigenen Fingern war trotzdem kaum zu übersehen. Ein schwarzer Transporter bog in die Straße ein und nur wenige Augenblicke später bevölkerten Polizisten in voller Einsatzmontur mit kugelsicheren Westen und Helmen den Asphalt. Es wurden Absprachen gemacht, manche brachten sich vor dem Haus in Position und ein anderer Trupp machte sich bereit, das Haus zu stürmen. Als krönender Abschluss kam auch noch ein Rettungswagen dazu und auch seine Insassen machten sich bereit, auf das Kommando der Polizisten wartend, das Mietshaus zu betreten. Die ganze Straße war durch diesen Großeinsatz blockiert und die ersten Schaulustigen wurden von zwei Polizeibeamten zurückgedrängt. Dann war es soweit und der Trupp in Spezialausrüstung betrat das Haus, die Rettungssanitäter kurz danach. Die Welt hielt den Atem an, die Zeit stand still. Jay sog scharf die Luft ein und fuhr sich durchs Haar. Es schienen Stunden zu vergehen, in denen nichts passierte. Endlose Ewigkeit. Und dann plötzlich - Zusammenbruch. Die Schockstarre löste sich mit einem Mal, die Welt schnappte heftig nach Luft, genau wie Jay, der einen erstickten Laut von sich gab. Trubel einige Meter von uns entfernt am Hauseingang. Die ersten Polizisten die ins Freie traten, gefolgt von den Sanitätern, die eine Trage heraus schoben. Auf der Trage, gerade so zu erkennen, ein Mann in weißem Anzug. "Nein", japste Jay und stürzte los. Dennis hechtete in einer schnellen Bewegung nach vorne und wollte ihn von seinem Vorhaben abhalten, war aber zu langsam und bekam ihn nicht richtig zu fassen. Ohne sich umzusehen rannte er zu den Sanitätern, während wir nur wie versteinert da standen. Wie automatisch hielt ich mir die Hand vor den Mund. Immer noch bewegte sich keiner von uns und wir beobachteten wie Jay von den Sanitätern und Polizisten zurückgedrängt wurde. Er gestikulierte heftig und man konnte den laut ausgetragenen Konflikt wahrscheinlich in der ganzen Straßen hören. Einige Anwohner hatten inzwischen die Fenster geöffnet und starrten gespannt auf das Geschehen hinunter. Ein Polizist winkte uns mit einem Handzeichen zu dem Rettungswagen und als Gruppe setzten wir uns in Bewegung. Dort angekommen wurde uns erklärt, dass Sep eine Überdosis Morphin bekommen habe. Für die anderen war diese Information ohne weitere Erklärung erstmal eher weniger wert, aber in mir breitete sich ein sehr ungutes Gefühl aus. Morphin zählte zu den stärksten Schmerzmitteln der Welt und bereits eine Dosis von 0,2 Gramm konnte tödlich sein, da das Morphin die Atemorgane lahm legt und es somit zum Atemstillstand kommt. Mein ungutes Gefühl wurde bestätigt, als einer Sanitäter zu größter Eile aufrief, da die Atmung auf ein gefährlich niedriges Maß gesunken war. Im Rettungswagen herrschte Aufregung und es zählte jede Minute. Jay diskutierte wild mit den Einsatzkräften und wollte mit ins Krankenhaus, Peter jedoch hielt ihn zurück und ich versuchte auf ihn einzureden. "Jay, sieh mich an. Das bringt hier nichts, lass die Sanitäter ihre Arbeit machen. Gerade du als Mediziner solltest wissen, dass es manchmal schnell gehen muss und man für sowas hier keine Zeit hat." Ich versuchte meine Stimme so ruhig wie möglich klingen zu lassen, auch wenn das Adrenalin gerade meinen Körper flutete. "Er ist in guten Händen", fügte ich noch hinzu, als die Türen des RTW geschlossen wurden und er mit Blaulicht und Martinshorn durch die Straße fuhr. Peter hielt Jay immer noch fest, doch dieser rutschte durch Peters Arme und sank auf den kalten Boden. Der Rotblonde kniete sich neben ihn. "Die kümmern sich schon. Es wird alles gut." Mit etwas verschwommenem Blick sah ich mich um. Mein Blick streifte die Polizisten, die Autos, die Gaffer auf dem Gehweg. Nirgends aber konnte ich Christian entdecken und so erweiterte ich mein Sichtfeld und blickte auch etwas weiter in die Ferne. Aber auch am Ende der Straße konnte ich ihn nirgendwo sehen. Ich wirbelte herum. "Leute, habt ihr Chris gesehen?", fragte ich aufgeregt. Verwirrte Augenpaare starrten mich an. "Nein. Scheiße", gab Dennis zurück. "Seit wann ist er denn bitte schon weg?", gab Peter entgeistert als Antwort. "Verflucht", murmelte ich. "Kümmert euch um Jay und sagt mir bescheid, wenn was ist", rief ich noch schnell und drehte mich um, um die Straße hinunter zu sprinten. "Wo willst du denn hin?", hörte ich noch Peter hinter mir rufen, doch ich hatte bereits einige Meter hinter mich gebracht und umkehren war keine Option. So trugen mich meine Füße wieder einmal durch die Straßen, ohne ein Ziel zu haben. Die Nachtluft war kalt, doch ich schenkte der Temperatur nur wenig Beachtung. Nach einigen Minuten, in denen ich mein Tempo aufrecht erhalten konnte, ließ die Kraft dann doch nach und meine Lungen brannten. Erschöpft hielt ich an und lehnte mich an eine Hauswand. Erst jetzt realisierte ich, wie dumm meine Aktion doch gewesen war. Ich war einfach los gerannt und dass obwohl ich wusste, dass meine überstürzte Suche erfolglos bleiben würde. Ich musterte meine Umgebung. Ich war in kleiner Seitenstraße gelandet, in der keine Menschenseele zu sehen war. Ich atmete tief durch. Die Tatsache, dass Chris schon wieder weg war, versetzte mir einen Stich. Ich wusste nicht ganz was es war, aber irgendetwas verband mich mit ihm. Etwas in mir fühlte sich extrem zu ihm hingezogen und doch schien es für uns keine Zukunft zu geben. Tränen stiegen mir in die Augen, doch ich fasste mich schnell wieder und beschloss, diese unüberlegte Suchaktion hier zu beenden.
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Guardian - She came to save us all [Pietsmiet Fanfiction]
Fanfiction- "Nicht alle Engel haben Flügel", sagte er sanft zu mir, bevor er mir noch einmal die Hand auf die Schulter legte und dann das Zimmer verließ. Eine Träne lief mir die Wange herunter und plötzlich spürte ich eine unendliche Leere und Dunkelheit in m...