Kapitel 9

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Ein merkwürdiges Geräusch und ein ungewohntes Gefühl des Schwankens wecken mich schließlich aus dem Tiefschlaf. Die letzten Tage waren so anstrengend, dass ich nicht mal richtig wach werde, als sich eine große Hand auf das vorderste Brett meines Baumhauses legt. Erst als graue Augen meinem grünen Blick begegnen registriere ich was gerade passiert. Gedanken wirbeln in meinem Kopf herum und mein Panther schreit, dass ich aufstehen und verschwinden soll, doch mein Körper reagiert einfach nicht.

Sitzend sehe ich einfach zu, wie Lucien sich hoch zieht und dann vorsichtig mein Heim betritt. Ich registriere sogar, dass er sich absichtlich langsam und vorsichtig verhält, was mich eher irritiert und verunsichert als beruhigt. Verwirrt schaue ich zu, wie Lucien sich einmal im Kreis dreht, um sich alles ansehen zu können.

Dabei fällt mir auf, dass mein Biss bereits vollkommen verheilt ist. Nur die Spuren sind noch gut zu erkennen. Gedankenverloren greife ich mir selbst an den Nacken. Wo meine Finger ebenfalls auf glatt verheilte Haut treffen. Doch bevor ich mir darüber weitere Gedanken machen kann, lenkt Lucien meine Aufmerksamkeit auf sich.

"Ich möchte mich bei dir entschuldigen.", sagt er schließlich und setzt sich mit auf meine Matratze. Offenbar schlafe ich noch und träume das alles nur. Da ich nicht antworte spricht er gleich weiter. "Ich hätte dir die Zeit geben sollen die du brauchst um dich einzugewöhnen.", gibt er zu und fährt sich mit einer Hand über das Gesicht. Ob er in der letzten Nacht überhaupt geschlafen hat? Er sieht unfassbar müde aus. Noch immer bekomme ich kein Wort heraus, doch das scheint ihn nicht zu stören.

"Das wollte ich dir nur sagen. Wenn du noch mal von vorne anfangen willst können wir innerhalb der nächsten Tage noch einmal alles Wichtige besprechen. Es würde mich freuen." Ein weiteres niedergeschlagenes Seufzen entfährt ihm, als ich immer noch nicht antworte. Irgendwie sieht er ganz niedlich aus, wie er hier in meiner kleinen Behausung sitzt und mich bittend ansieht. „Und vollkommen fehl am Platz", flüstert mein Panther, was mich die Mundwinkel etwas nach oben ziehen lässt.

Er hat sich bei mir entschuldigt, obwohl mein Verhalten gegen die Regeln des Rudels gewesen ist. Wir sollten ihm noch eine Chance geben, schließlich hat er sich die Mühe gemacht den Baum hoch zu klettern. "Ich sollte jetzt zurück. Du kannst dir ja überlegen, ob du noch zu uns gehören willst."

Er will sich gerade erheben, als doch noch ein paar Wörter meinen Mund verlassen. "Willst du dich hier noch etwas ausruhen?" Überrascht sieht Lucien mich an, nickt dann aber zustimmend. Offenbar ist er wirklich fertig. Schnell rutsche ich an die Seite, damit er ein wenige mehr Platz hat, und biete ihm einen Teil meiner Decke an. Sie ist löchrig und ziemlich dünn, aber besser als nichts.

"Danke Izzy.", murmelt Lucien und eine Freude macht sich in mir breit, die ich mir im ersten Moment nicht erklären kann. Er hat zum ersten Mal meinen Namen benutzt und er hört auf meinen Rat sich etwas auszuruhen, auch wenn er indirekt gewesen ist. Das ist schon mal ein Fortschritt. Auch ich lege mich nochmal ein bisschen hin. Der Rückweg wird beschwerlich genug und ich will ja auch das ein oder andere meiner Sachen mitnehmen.

Mit Schweißperlen auf der Stirn und Angst im Magen wache ich wieder auf. Beinahe hätte mich die Panik übermannt, doch ich kann mich noch zusammen reißen. Auch Lucien hat sich im gleichen Moment aufgerichtet wie ich. "Was ist los?", flüstere ich leise und kann die Angst nicht ganz aus meiner Stimme verbannen.

"Das ist das Rudel. Sie sind in Schwierigkeiten.", knurrt der Gestaltwandler und seine grauen Augen blitzen wütend auf. So fühlt es sich also an, wenn man eine Verbindung zum Rudel hat. Nur wenn eine Vielzahl der Angehörigen das gleiche Gefühl verspürt ist es auch für andere möglich diese wahrzunehmen. Es muss etwas wirklich Schlimmes passiert sein.

"Wir sollten los.", murmel ich und versuche die Furcht abzuschütteln, die mich befallen hat. "Wie lange brauchen wir bis zum Rudel?" Mein Zeitgefühl von letzter Nacht ist nicht das Beste und ich weiß auch nicht in welche Richtung wir müssen. "Wenn wir uns beeilen sind wir in weniger als drei Stunden da. Wenn wir Kräfte sparen vier." "Dann lieber mit Bedacht vorgehen. Es bringt niemandem etwas wenn wir in eine Falle laufen.", murmel ich zurück und versuche das Gefühl der Angst von mir zu schieben.

Sein eigenes Rudel zu sein hat auch seine Vorteile. Dann ist man immer nur seinen eigenen Gefühlen ausgesetzt und muss sich nicht auch noch mit denen der anderen herum schlagen. Leise laufen wir nebeneinander her und achten auf alle Gerüche und Geräusche. Doch wir begegnen niemandem. Je näher wir dem Rudel kommen desto langsamer und vorsichtiger werden wir. Der Wind kommt uns zugute und so können wir uns anschleichen und erstmal die Lage auskundschaften. Gemeinsam klettern wir auf einen höheren Baum, auf den auch Lucien ohne Probleme hoch kommt.

Von hier aus können wir einen Großteil des Geländes überblicken. Neben der Feuerstelle von gestern Abend wurden alle Rudelmitglieder zusammen getrieben, umstellt von etwa einem dutzend Wölfe, die sie bewachen. Viele haben Platzwunden und Schrammen am Körper.

Die Mütter versuchen ihre weinenden Kinder zu beruhigen, doch das hat keinen Sinn. Am Rand kann ich sogar Titus auf dem Boden liegen sehen. Seine Verbände sind teilweise blutig. Nicht einmal vor ihm haben sie halt gemacht. James sitzt neben ihm auf dem Boden und hat seinen Kopf in den Schoß gezogen, während seine Frau versucht mit einem Tuch eine schlimmere Blutung am Oberschenkel zu stillen.

Wütend knirsche ich mit den Zähnen, um uns nicht mit einem unangebrachten Knurren zu verraten. Etwas Abseits steht der Alphawolf, umgeben von drei Männern und einer Frau. Und die Frau ist keine Wölfin. Ich dachte sie wäre tot! „Unkraut vergeht nicht.", murmelt mein Panther und der Hass ist deutlich aus ihrer Stimme heraus zu hören. Als hätte sie noch nicht genügend Unheil angerichtet.

Vorsichtig klettern wir wieder herab und besprechen unsere weitere Vorgehensweise. "Es sind zu viele. Die bekommen wir nicht erledigt ohne Aufmerksamkeit zu erregen.", flüstert der Alpha. Ihm scheint es schwer zu fallen zugeben zu müssen, dass er sein Rudel nicht beschützen kann.

"Wir müssten ihnen begreiflich machen das Hilfe gekommen ist.", murmel ich mehr zu mir selbst und ein Plan formt sich in meinem Kopf. "Es wird dir nicht gefallen. Aber wenn du eine bessere Idee hast sag Bescheid" Schnell und leise erläutere ich mein Vorhaben.

"Wehe du stirbst mir da draußen." Dieses Mal muss ich ihm einfach mein strahlendstes Lächeln schenken. Er macht sich wirklich sorgen um mich! "Das kann ich nur zurück geben." Ich spüre das tiefe Vertrauen zwischen uns und kann trotz der Gefahr nicht den Blick von seinen unglaublich grauen Augen abwenden.

Auch in ihnen spiegeln sich die Gefühle und schon bevor er sich zu mir rüber beugt weiß ich was er vor hat. Unsere Lippen treffen sich und automatisch schlinge ich meine Arme um seinen Hals und schmiege mich an ihn.

Ich habe keine Ahnung wie lange wir uns küssen, doch irgendwann lässt er wieder von mir ab. Seine Augen leuchten stärker als sonst und zum ersten Mal sehe ich ein breites Grinsen auf seinem Gesicht, welches ihn um Jahre jünger wirken lässt. "Das hatte ich schon seit Ewigkeiten vor." In mir macht sich eine Wärme breit, mit der ich niemals gerechnet hätte.

"Dann sollten wir Beide die nächsten Minuten heil überstehen um da weiter zu machen, wo wir aufgehört haben.", biete ich an und küsse ihn noch einmal kurz auf die Lippen, wobei mich sein Bart in meine Haut piekst. Das Gefühl ist weit angenehmer als ich gedacht hätte.

Doch davon darf ich mich jetzt nicht ablenken lassen. Wir nehmen unsere Positionen ein, ich auf einem Baum zwischen unserem Rudel und den vier Gestalten. Lucien in der Nähe des Rudels an der Seite, von wo aus er sich besser an die Wachposten anschleichen kann. Ich bin die Ablenkung und er befreit unsere Leute. Wenn alles glatt läuft können wir die Wölfe so überrumpeln.

Hoffentlich.

Gefährtin des AlphasWo Geschichten leben. Entdecke jetzt