Ein kleiner Nebencharakter

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In der ersten Stunde hatten wir Englisch, was wirklich schrecklich ist. Die Europäer haben ein komplett anderes Schreib- Lese- und Sprachsystem als wir und es ist wirklich schwer, dieses zu lernen. Meine Mutter sagte zwar immer, dass ich ein Sprachengenie sei, weil mir Sprachen sehr leicht von der Hand gehen würden, und es stimmt auch, Sprachen können Spaß machen, aber dieses gesamte System ist einfach nur verwirrend.

Seufzend ließ ich mich auf meinen Platz fallen und holte meine Bücher aus der Tasche. Ich schaute auf meine Armbanduhr. Vier Minuten noch bis zum Unterrichtsanfang. Die Wartezeit verbrachte ich ruhig sitzend, mit verschränkten Händen auf meinem Stuhl, während alle anderen um mich herum grölten und die kurze Zeit ohne eine Lehrperson ausnutzte. Ich sah mich unauffällig um. Kacchan schien noch nicht da zu sein, er musste sich jetzt echt beeilen. Oder war er krank? Ich runzelte die Stirn. In meiner langjährigen Freundschaft mit Kacchan kann ich mich nicht erinnern, dass er jemals krank gewesen ist. Ganz im Gegensatz zu mir. Ich hab gefühlt jede Woche Schnupfen, Fieber oder sonst was.

Ich weiß noch, wie ich einmal eine Lebensmittelvergiftung hatte und Kacchan vorbeigekommen ist und mir Hausaufgaben vorbeigebracht hat. Ich hatte mir schon gedacht, dass seine Mutter, Mitsuki, da hinter steckt, und er selbst beteuerte auch die ganze Zeit, dass sie ihn dazu gezwungen hatte, doch ich tat so, als wäre es mir egal. Innerhalb fünf Minuten war er dann auch wieder weg.

Seufzend legte ich meine Arme auf den Tisch und meinen Kopf auf diesen nieder. Ich versuchte, die Hintergrundgeräusche, die nervenden Schüler, auszublenden und mich auf meine Gedanken zu konzentrieren. Ich musste mich heute beeilen. Jeden zweiten Wochentag arbeite ich in einem kleinem Asiashop bei mir um die Ecke, damit ich mit dem Lohn, meiner Mum ein wenig bei der Miete unter die Arme greifen kann. Allerdings war meine Schicht um acht bis zehn Uhr abends, und die Schule endet normalerweise erst um fünf, plus essen und die Hausaufgaben, sowie lernen, war ich manchmal erst um eins im Bett.

Das läuft ab der achten Klasse so, seit dem haben sich meine Noten zwar etwas verschlechtert, so dass ich jetzt im Dreier-Viererbereich, statt dem Einser-Zweierbereich liege, doch es ist okay. Ich weiß, dass ich meiner Mum damit helfe, und das ist die Hauptsache. Oder? Ich weiß momentan einfach nicht mehr wer in meinem Leben die wirkliche Hauptrolle spielt, und ob ich night doch nur ein kleiner Nebencharakter bin.

Mit dem Knall der zuschlagenden Tür wurde es zunehmend leiser, während ich mich etwas schläfrig aufrichtete und versuchte wach auszusehen, was mir wahrscheinlich jedoch nicht gelang, da mir die Augen immer wieder zufielen. Unser Lehrer, Herr Daizuwa, stellte seine Tasche neben dem Pult ab und begrüßte uns fröhlich. Ein genuschelter Singsang kam zurück, dann durften wir uns setzen.

,,Liebe Klasse, da dies unsere letzte gemeinsame Woche ist, habe ich mir etwas Tolles überlegt. Ihr werdet jeden Tag einem Partner zugeteilt werden, mit dem ihr dann ein Thema, das ich euch geben werde, bearbeiten werdet. Dadurch habt ihr die Chance, noch einmal eure Mitschüler, mit denen ihr vielleicht nicht so viel zu tun gehabt habt, ein bisschen besser kennen zu lernen, bevor ihr getrennte Wege geht. Am nächsten Morgen werden wir dann die Ergebnisse der letzten Stunde präsentieren. Nun denn, ich brauche eine Losfee, die die Namen zieht."

Die Finger der Mädchen schossen in die Höhe, die Jungs stöhnten auf. Ich blieb leise. Partnerarbeit war bisher immer okay. Es war einfach, einfacher als normaler Unterricht mit viel mündlicher Beteiligung um nicht durchzufallen. Plötzlich hörte ich meinen Namen. Verwirrt sah ich auf. Was? Warte, wie bitte? Wer war mein Partner? Doch die Losfee rief schon weiter irgendwelche Namen. Vollkommen orientierungslos sah ich mich um, als ich an der Schulter angetippt wurde. Ich fuhr herum und spürte einen stechenden Schmerz, als ich mit dem Kopf gegen den Kopf von jemand anderem krachte. Reflexartig fuhr meine Hand zur Stirn um über die schmerzende Stelle zu reiben. Leise stöhnte ich auf.

,,Oh nein, wie peinlich, das tut mir unfassbar leid. Hast du dir weh getan?", fragte ich und sah einem freundlich wirkendem, rothaarigem Mädchen ins Gesicht. Liena hieß sie, ja das wars. ,,Ach quatsch, wie geht es dir? Mein Dad sagt immer, mit meinem Dickschädel könnte ich Wände brechen.", ein glockenklares Lachen entwich ihrer Kehle, ,,Wusstest du, der Schädel wiegt ja ungefähr sechs Kilogramm, also ungefähr so viel wie mein Kater Sherlock, er ist ein bisschen zierlich, musst du wissen. Ach, da hätte ich eine tolle Geschichte zu erzählen. Ich war acht Jahre alt, das war wirklich witzig, ach ja."

Hilflos hörte ich Liena zu, wie sie mir davon erzählte, dass sie mit acht Jahren einen wertvollen Teppich anzündete, als sie aus Versehen einen Geburtstagskuchen mit brennenden Kerzen hiel, der ihr dann runterfiel. Aber ganz ehrlich, wer lässt denn auch eine achtjährige einen Kuchen mit brennenden Kerzen halten? Dennoch hatte ich keinerlei Ahnung, wie wir, oder eher sie, so aprupt das Thema gewechselt hat.

Auf einmal wurde sie still und schaute mich mit großen Augen an. Dann schoss ihr die Röte ins Gesicht, welches sie sogleich hinter ihren Händen verbarg. ,,Oh nein, oh nein, ich hab es schon wieder getan oder? Einfach geredet und nicht aufgehört. Es tut mir wirklich leid."

Ich lächelte leicht. ,,Ist doch nicht schlimm. Ich würde nur vorschlagen, jetzt die Aufgabe zu bearbeiten, die anderen haben schon alle angefangen." Ich schaute mich um, sie tat es mir gleich. Tatsächlich war es stiller geworden, jedoch nicht weil die anderen arbeiteten, sondern weil sie mehr oder weniger heimlich an ihren Handys hockten und wahrscheinlich ihr Social Media updateten. ,,Mmh okay, und das Thema ist dann..", sie blickte an die Tafel und ihr Gesicht hellte sich merklich auf, ,,Mein Traum. Das ist doch ein schönes Thema, oder nicht?"

Innerlich schnitt ich eine Grimasse, doch äußerlich ließ ich mir nichts anmerken. Glaube ich zumindest. Na toll, warum ausgerechnet dieses Thema? Bei dem ich mir selbst nicht im Klaren war? Nicht einmal mit meiner Mum sprach ich darüber und jetzt sollte ich mit einem Mädchen, mit dem ich noch nie geredet hatte, darüber sprechen? Aber Hallo, nicht mit mir.

when it's time to decideWo Geschichten leben. Entdecke jetzt