Zwischen den Ästen kam eine riesige Steinwand zum Vorschein. Seltsame Zeichen und Symbole, die ich noch nie zuvor gesehen hatte, zogen sich als Einkerbungen durch den Stein, verschmolzen zu einem riesigen Bild. Ich erkannte dreieckige Formen, Kreise, Schnörkel und Schriftzeichen, deren Sprache ich nicht identifizieren konnte. Vermutlich war das Bild schon sehr alt, denn Moos bewuchs einen Großteil der Fläche und machte etliche Symbole unerkennbar.
»Wow«, staunte Tirion, während er sich seinen Weg durch das Gestrüpp bahnte, »Pandora, weißt du, was das ist?«
»Ich habe keine Ahnung«, antwortete ich wahrheitsgemäß und tastete mit meinen Blicken die Wand ab. Das Zentrum des Gemäldes bildete eine Uhr, die von etlichen Dreiecken in gleichmäßig Abständen umringt war. Danach folgte jeweils ein Zeichen für Feuer, Wasser, Luft und Erde in den verschiedenen Himmelsrichtungen. Mit Sicherheit symbolisierten sie die vier Götter, unter dessen Tyrannei Cytron litt. Enja, Göttin des Wassers und Herrscherin des Wasserkontinents, der Ort, an dem unser Dorf versteckt lag, kennzeichnete beispielsweise eine Welle.
»Kannst du das lesen?«, hakte mein Begleiter nach, während seine Fingerkuppen über die Einkerbungen strichen. Er fuhr eine Linie entlang, die sich wie eine Flamme in die Höhe schlängelte, ähnlich dem Wappen der Feuerregion, dessen Gebiet nordwestlich lag, jedoch durch ein brausenden Meer vom Wasserkontinent getrennt wurde. Zwar war ich noch nie hinter den Grenzen der Feuerregion gewesen, doch ich wusste, dass der Gott des Feuers, bekannt unter dem Namen Argon, dieses Reich regierte.
Ich schüttelte den Kopf und verzog mein Gesicht zu einer nachdenklichen Miene. Der Duft der Magie ging eindeutig von der Wand aus, auch wenn das nicht gehen sollte. Ich erkannte weder verzauberte Runen, noch einen Beschwörungszirkel. Also warum nur lag dieser seltsame Geruch in der Luft? Natürlich konnte die Wand verzaubert sein, doch sie war viel zu groß, als dass es ein herkömmlicher Magier gewesen sein konnte. Selbst wenn es möglich wäre, bezweifelte ich stark, dass sie trotzdem die scheinbar unendliche Menge an magischer Energie ausströmen würde.
Kurz zögerte ich, doch eigentlich hatte ich nichts zu verlieren, so legte ich meine Handfläche auf das Zentrum des Bildes. Der Stein fühlte sich kühl an, trotz der Sonne, die unablässig auf ihn einbrannte. Zudem war die Oberfläche glatt genauso wie Glas, sodass man die Einkerbungen deutlich spürte. Meine Fingerspitzen begannen zu kribbeln, während sie über das Ziffernblatt fuhren. Womöglich war der Ursprung dieses Gefühls die Magie, die spürbar in mich überging, aber vielleicht täuschte ich mich auch und es entsprang der Kälte.
Erneut schüttelte ich den Kopf und malte gedankenverloren die Umrisse der Vier nach, doch gerade als ich zur Fünf übergehen wollte, überkam mich der seltsame Wille diese zu überspringen und kaum berührten meine Finger die Sechs, hallte eine fremde Stimme durch meinen Kopf.
»Pandora.«
Es war so plötzlich, dass ich erschrocken von der Wand abließ. Obwohl es nur ein einziges Wort war, durchzuckte mich der Laut wie ein Blitz, der in die Äste kahler Bäume einschlug. Der Schock fuhr durch meinen ganzen Körper, schaffte es meinen Herzschlag bis aufs äußerste zu beschleunigen. Es hämmerte panisch zwischen meinen Rippen und Adrenalin rauschte durch meine Adern, wie eine Welle, die soeben einen Damm gebrochen hatte. Zeitgleich schnappte ich nach Luft und versuchte irgendwie ein Gleichgewicht zu finden, als ich nach hinten stolperte.
»Pandora? Geht es dir gut?«, vernahm ich die Stimme Tirions, doch sie schien mir unendlich weit entfernt, abgeschirmt, wie durch eine dicke Stoffschicht. Einzig diese fremde Stimme hallte durch meinen Kopf, zog jeden meiner Gedanken in seinen Bann.
Erst nach etlichen Sekunden beruhigte ich mich wieder. Mein Puls normalisierte sich und meine Atmung wurde regelmäßiger. Allerdings verschwand diese Stimme nicht aus meinem Kopf. Das Echo klang noch immer nach, als halle es stetig von den Innenseiten meines Schädels wider. Der Ton brannte sich in mein Gedächtnis wie heißes Eisen.
Vorsichtig richtete ich mich auf und blickte in das Gesicht Tirions, dessen Iriden mich besorgt musterten. »Geht es dir gut?«
Ich wandte den Blick und versuchte die Stimme aus meinem Gedächtnis zu verbannen. Noch zwei bis dreimal hallte das Echo in meinem Kopf wider, bevor es mir gelang, meine Gedanken davon zu befreien.
»Es geht schon«, murmelte ich schließlich und löste mich von Tirion, der stützend meinen Arm umklammert hatte.
Kaum hatte ich mich gefangen, sah ich erneut auf das Zentrum des Bildes. War das eben real gewesen oder nur eine Einbildung? Irgendwie konnte ich mir nicht vorstellen, dass diese Wand derart mächtige Magie ausströmte, doch das, was ich bei der Berührung gefühlt und gehört hatte, klang so unfassbar echt.
»Vielleicht sollte ich...«, murmelte ich zu mir selbst, während ich abermals in Versuchung gelang die Wand zu berühren, doch ich stoppte kurz vorher. Schlimmstenfalls handelte es sich um einen dunklen Zauber. Ein Fluch, der mich langsam dahinraffen würde, bis meine Gestalt nicht viel mehr wäre als eine leblose Hülle. Dieses Risiko wollte ich nicht eingehen. Ohnehin war es leichtsinnig gewesen, meine Hand so schamlos gegen die Wand zu halten, ohne zu wissen, was es mit der seltsamen Konstruktion auf sich hatte. Allerdings schien Tirion nichts vernommen zu haben, obwohl er ebenfalls die Oberfläche berührt hatte.
Mir entkam ein leises Seufzen, das sich in der Atmosphäre verlor wie eine einsame Melodie. Ich überlegte, ob ich Tirion wirklich davon erzählen sollte, allerdings würde es auch nichts bringen ihn anzulügen. Meine Reaktion konnte man nicht so einfach abtun.
»Da war eine Stimme. Sie schien meinen Namen zu rufen«, sagte ich und fuhr nochmals mit meinen Blicken über das Wandbild, doch die Stimme war verschwunden - verklungen im Nichts.
»Eine Stimme?«, wiederholte Tirion zweifelnd. In seinen Ohren mussten meine Worte wenig Sinn ergeben. Zeitgleich war seine Aussage wohl eine Bestätigung, dass nur ich diese rätselhafte Klangfarbe vernommen hatte. Aber wie konnte das sein?
»Ich glaube, wir sollten zurück, Pandora.« Mein Begleiter presste die Lippen aufeinander und hob die Augenbrauen an, sodass sich eine kleine Falte auf seiner Stirn bildete. Würde ich nicht wissen, dass er sich um mich sorgte, hätte ich gedacht, dass er mich für verrückt hielt. Immerhin besaß er dafür einen guten Grund.
»Tirion. Ich habe wirklich etwas gehört. Als ich mit meinen Fingern über die Einkerbungen fuhr, erklang sie plötzlich.« Unsere Blicke kreuzten sich und obwohl der Kontakt nur für wenige Augenblicke bestand, erkannte ich, dass er noch immer zweifelte.
»Warum habe ich sie dann nicht gehört?«, hakte er nach, während er sich von mir abwandte und erneut die Steintafel berührte. Zeitgleich durchfuhr mich ein Zucken, doch selbst Sekunden nachdem er seine Hand auf das Ziffernblatt gelegt hatte, erklang die Stimme nicht. Stattdessen blieb alles still, lediglich in der Ferne ertönte gedämpftes Rascheln, wie der Wind durch die Baumkronen tanzte.
Ich öffnete den Mund, setzte zum Widerspruch an, doch noch bevor ich ein Wort sagen konnte, schüttelte ich hastig den Kopf. Vielleicht hatte ich es mir tatsächlich nur eingebildet. Selbst wenn nicht durfte ich Tirion nicht in Gefahr bringen. Wenn es sich wirklich um einen Fluch handeln würde, könnte ich mir die Konsequenzen gar nicht erst erahnen.
»Weißt du was? Vielleicht hast du recht.« Ich nickte ihm zu, bevor ich erneut unsere Beute schulterte und mich in Bewegung setzte, um einer weiteren Diskussion aus dem Weg zu gehen. Tirion, der noch kurz verharrte, warf der Wand einen letzten Blick zu, woraufhin er sich den Rucksack überwarf und mir raschen Schrittes folgte.
Wahrscheinlich war das die beste Option, auch wenn mir das sonderbare Ereignis nicht aus dem Kopf ging. Es beschäftigte mich den ganzen Rückweg und nahm alle meine Gedanken in seinen Bann. Dennoch, egal wie sehr ich auch grübelte, mir fiel keine Erklärung ein, so musste ich mich mit meiner Unwissenheit zu Frieden geben. Dennoch beschloss ich daheim den Dorfältesten zu fragen. Er war ein weiser Mann und vielleicht konnte er Licht ins Ungewisse bringen.
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Der fünfte Gott
Fantasy»𝑍𝑒𝑖𝑡 ℎ𝑒𝑖𝑙𝑡 𝑘𝑒𝑖𝑛𝑒 𝑊𝑢𝑛𝑑𝑒𝑛 𝑢𝑛𝑑 𝐺𝑜̈𝑡𝑡𝑒𝑟 𝑠𝑐ℎ𝑜𝑛 𝑔𝑎𝑟 𝑛𝑖𝑐ℎ𝑡.« Seit Jahrtausenden herrschen die vier Götter Argon, Enja, Kalani und Cleo über die magische Welt Cytron. Zusammen mit ihren Verwandten, besonderen Personen...