Kapitel 16.2 - Ein Deal um die Wahrheit

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Es dauerte nicht lange, da hatte sich eine Vielzahl von Menschen um Cyrian gescharrt. Erst vor wenigen Minuten hatte er den ersten Ton angestimmt, dennoch spielte er bereits jeden Ton mit unendlicher Hingabe. Hell und klar, wie die süße Stimme eines Engels, der Güte und Liebe brachte, erklang es neben dem Springbrunnen, dem Ort, wo wir am Tag zuvor noch auf Leon gewartet hatten.

Obwohl man durch die Masse kaum etwas erkennen konnte, sah ich es deutlich vor Augen, wie der Bogen über die Saiten der Violine strich. Jede Bewegung, jede zarte Schwingung, die dem Korpus seine Töne entlockte, entstand im völligen Einklang. Als hätten sich ihre Seelen vermischt, bildeten sie eine Einheit, stärker als Blut und Wasser. Es war, als wäre jede Note, die Cyrian in unberührbare Materie verwandelte, ein Klang, der geradewegs seinem Herzen entsprang und einher mit dem Strom seines Lebens floss. Eine unvergessliche Melodie, die die Ohren der Zuschauer entzückte und von unverkennbaren Talent zeugte.

»Er ist wirklich gut«, murmelte ich eher zu mir selbst, während ich mich auf der anderen Seite des Brunnens niederließ. Dabei schloss ich meine Augen und lauschte weiterhin der Musik, die wie ein Segen über Kaikuono hing. Dabei schärfte ich reflexartig meine Sinne, wodurch das leise Plätschern des Wassers einen weiteren Faktor zur Beruhigung darstellte, wenngleich es bedeutete, dass die Wirkung des Trankes allmählich abnahm. Doch es war so gering, dass ich mir keine großen Sorgen machte. Ich würde später einfach den Rest der Flasche trinken.

»Zwischen den beiden liegen Welten, aber Cyrian ist ein Gott. Natürlich hat er eine besondere Wirkung«, fügte ich in Gedanken hinzu, als ich einen flüchtigen Blick zur anderen Seite des Brunnens warf. Entgegen all meiner Erwartungen wohnten noch mehr Leute dem Spektakel bei, während Elliot den lieblichen Tönen begeistert aus erster Reihe lauschte. Dabei fiel mir auf, dass sich tatsächlich nur diejenigen auf dem zentralen Marktplatz aufhielten, die ein gewisses Maß an Reichtum erfüllten. Man erkannte deutlich den Unterschied zwischen Elliot und der Oberschicht, denn sie ähnelten sich weder in der Kleidung, die sie trugen, noch in den Gesten, mit denen sie Cyrian Lob und Anerkennung schenkten. Tatsächlich scheuten sie sich auch nicht davor, den ein oder anderen Goldtaler großzügig zu spenden. Trotzdem bezweifelte ich, dass er auf die erhoffte Menge von 50 Goldtalern kam. Zumindest nicht unter dem Zeitlimit von zwei Stunden.

So verstrich die Zeit. Neue Zuschauer kamen und Alte gingen, während Melodie für Melodie ihren Höhepunkt fand, sich erhob wie ein Vogel, der gegen die rote Abendsonne flog, bevor er landete und zur nächtlichen Ruhe in einen friedvollen Schlaf fiel.

Schließlich neigten sich die zwei Stunden dem Ende zu und als ich meinen Blick in den Himmel schweifen ließ, erkannte ich, dass die Sonne ein gutes Stück gewandert war. Zwar belächelte sie Kaikuono noch immer mit ihrem Schein, doch es schien, als wäre jeder einzelne Strahl matt und kraftlos geworden. In nur wenigen Stunden würde auch sie ruhig schlafen, ähnlich wie jener Vogel.

Als ich hinter mir lauten Applaus vernahm, erkannte ich, dass Cyrian soeben sein letztes Stück beendet haben musste. Noch im selben Moment erhob ich mich und bereitete mich innerlich darauf vor, welche Antworten uns Elliot geben würde. Zwar hatte die Musik zur Entspannung beigetragen, doch im Kontrast dazu stand noch immer die Angst, die trotz der idyllischen Atmosphäre, präsent in meinem Herzen schlummerte.

Während sich der Zeitgott höflich verbeugte und sich für den Applaus bedankte, hielt ich nach Avril Ausschau, die jeden Moment in der Menge auftauchen könnte. Tatsächlich dauerte es nicht lange, bis ich rotes Haar zwischen den Massen erkannte. Die junge Frau ging schnellen Schrittes auf mich zu, dabei war ihre Haltung angespannt und ein verbissener Ausdruck lag auf ihrem Gesicht. Nicht einmal der Anflug eines Lächelns war auf ihren Lippen zu erkennen und als sie mich entdeckte, zwang sie sich unter größter Anstrengung zu einem. Trotzdem kräuselte es nur zwanghaft ihren Mund.

Der fünfte GottWo Geschichten leben. Entdecke jetzt