Kapitel 12.2 - Göttliches Durcheinander

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Nachdem Cyrian das Zimmer verlassen und ich mich nun alleine in diesem befand, hatte es keine zwei Minuten gedauert, bis der nächste Besucher geradewegs mit der Tür ins Haus gefallen kam. Vollkommen aufgelöst, stürmte Tirion an mein Bett. Mit Augen, die von immerwährenden Tränen gezeichnet waren, hatte er nicht mehr als ein herzzerreißendes Schluchzen hervorbringen können. Wie ein Unheil, das ihm all seiner Kraft beraubte, fiel er vor dem Bett auf die Knie, während er mich um die Vergebung bat, die ich ihm schon lange gewährt hatte.

Kleine, funkelnde Perlen rannen über seine Wangen und bildeten einen Strom der Trauer und Erleichterung. Ein Zittern hatte von seinem Brustkorb Besitz ergriffen und seine Iriden spiegelten all die Gefühle wider, die wie ein Orkan das Gemüt des Vierzehnjahrigen verwüsteten.

Sofort setzte mein Herz einen Schlag aus, bevor es regelrecht unter der gefühlvollen Reaktion des Jungen schmolz. Wie Schnee, der unter der warmen Frühlingssonne auftaute, konnte keine noch so hohe Mauer mich vor einer weiteren Welle der Emotionen schützen.

Im nächsten Moment fand sich in meinen Augen ein verräterisches Brennen wieder, während sich in meinem Kopf nochmals abspielte, wie knapp Tirion dem Tod entkommen war. Das Bild des Schatten mitsamt seinen messerscharfen Zähnen und leeren, fleischlosen Augen, dessen bloßer Anblick einem die Seele selbst entreißen konnte, kam mir erneut in den Sinn und ein kalter Schauer jagte mir den Rücken hinunter. Damals war er nur knapp dem Tod von der Schüppe gesprungen, während ich geradewegs meinem Ende entgegengestürmt war. Es grenzte an ein Wunder, dass wir es beide unbeschwert geschafft hatten. Ein Wunder, das ich, wäre Cyrian nie gewesen, nicht geglaubt hätte, doch es war real. So real, wie die Möglichkeit Cytron zu retten.

»Pandora«, schluchzte Tirion und umarmte mich stürmisch, ganz so, als befürchtete er, ich wäre nur eine Illusion, die sein Kopf im Zuge der endlosen Schuldgefühle erschaffen hatte. Doch ich war echt und genauso lebendig wie er.

»Ich dachte, der Schatten hätte dich getötet«, schniefte er, während die Tränen unzählig auf meine Bettdecke tropften und jedes seiner Worte unterstrichen.

Vorsichtig streichelte ich über seinen Kopf, bevor ein leichtes Lächeln auf meinen Lippen erschien. Eigentlich hätte ich ihn für seinen Leichtsinn zurechtweisen müssen, doch ich wusste genau, dass der Junge seine Lektion gelernt hatte. Ich sollte nicht noch mehr Salz in die Wunde streuen. Wichtig war lediglich, dass es ihm und allen gut ging.

»Vergeben und vergessen«, erwiderte ich und unterdrückte das Funkeln in meinen Augen. Um ehrlich zu sein, wollte ich jetzt nicht darüber diskutieren, wer Schuld hatte und wer sich bei wem entschuldigen musste, immerhin gehörte dieses Erlebnis zur Vergangenheit. Es zählte nur die Gegenwart und das Schicksal, das Cytron bevorstand.

Trotz meinen beschwichtigenden Worte, schüttelte Tirion den Kopf, wobei ein erneutes Schluchzen seinen Tonklang untermalte: »Ich hatte Angst. Du, der Schatten und dann die Soldaten.«

Ich presste die Lippen aufeinander, da ich mir nicht sicher war, wie ich mit der Situation umgehen sollte. Von meiner Seite aus, war alles in Ordnung, doch Tirion schien wie das Frack eines Schiffes, das von monströsen Wellen in die endlose Tiefe der See gezogen worden war.
Gleichzeitig verlor ich mein Lächeln, noch bevor die letzte Silbe seinem Mund entronnen war. Die Worte verpassten mir einen Stich und hinterließen eines flaues Gefühl im Magen.

»Aber wir haben den fünften Gott gefunden. Du hattest recht«, versuchte ich die Situation aufzulockern, doch meine Kehle fühlte sich rau und trocken an. Es kratzte unangenehm, brannte förmlich, als hätte ich ein Glas Salzwasser getrunken.

»Du hast ihn aus dem Abyss befreit«, sprach Tirion und hob erstmals seinen Kopf, »Cyrian hat alles erzählt. Dass du gehen musst.«

Er hatte es also bereits gesagt. Das schmerzhafte Opfer, das ich für den Vertrag mit ihm hatte eingehen müssen. Den Verlust meiner Familie und Freunde, um auf eine Reise zu gehen, die für uns alle von zentraler Bedeutung war.

Nun konnte ich die Tränen nicht mehr halten. Das Gesicht im Schatten verborgen, tropften sie still auf meine Hände, die sich krampfhaft um die Decke klammerten. Noch nie hatte mir ein bevorstehendes Ereignis so viel Angst gemacht. Wie gewaltige Wassermassen, die mich bis an den Grund des Meeres drückten. Meine Lungen fühlten sich erdrückend an und drohten zu platzen, während meine Glieder schlapp und leblos wirkten.

»Es tut mir leid«, flüsterte ich, doch obwohl meine Stimme nur ein Hauch war, war jedes Wort ein Ausdruck meiner wahren Gefühle,
»Ich will euch nicht verlassen, aber wenn ich bleibe, werden noch mehr Soldaten kommen. Ich darf euch nicht in Gefahr bringen. Aber ich reise mit einem Gott. Du brauchst dich nicht sorgen, Tirion. Ich komme wieder. Versprochen.«

Jedes Wort schmerzte. Wie Scherben, die sich in mein Herz bohrten, allerdings durfte ich jetzt nicht schwach werden. Die Zukunft tat weh. Jeder Gedanke daran brannte wie heißes Eisen, dennoch durfte ich mich nicht fürchten. Ich wusste ihr tapfer entgegentreten, andernfalls würden schon am ersten Hindernis scheitern.

»Wissen es die anderen schon?«, fragte ich und versiegelte die Tränen. Meine Unsicherheit sollte nicht noch mehr auf Tirion abfärben. Er hatte bereits genug gelitten.

Ein stummes Nicken folgte als Antwort. Zwar hatte er den Mund einen Spalt breit geöffnet, trotzdem war kein Wort aus seiner Kehle gedrungen. Sie waren unter dem überwältigenden Druck einfach erstickt.

»Du kommst ganz sicher wieder?«, brach es schließlich aus Tirion herraus. In seinen Augen schimmerte ein starker Wunsch. Wahrscheinlich würde er mich am liebsten begleiten, doch das würde nicht einmal Galcha erlauben, obwohl er sogar in der Begleitung seines Lieblingsgottes Cyrian wäre.

Natürlich war es falsch, dass ich meine Rückkehr versprochen hatte. Mehr als falsch, ihn sich an einen unechten Glauben klammern zu lassen, doch was blieb mir anderes übrig? Oder war die Wahrheit besser?

Ich presste die Lippen aufeinander. Es gab kaum Worte, die schlimmer auszusprechen waren: »Ich will nicht sterben. Ich will wieder zu euch zurückkommen.«

»Können wir denn Cyrian vertrauen?«, hakte er nach, wobei die Hand, die sich fest in sein Hemd krallte, noch mehr verkrampfte.

Ich verstand seine Zweifel besser als jeder andere. Die Macht des Fluches war beängstigend und obwohl sie mich kaum betraf, fürchtete ich einen weiteren Ausbruch. Die negativen Gefühle, die dabei aus dem innersten meiner Seele hervorgebrochen kamen, hatten gedroht mich zu übermannen, sodass ich mich gänzlich in ihrer Dunkelheit verlieren würde. Ich wollte mir nicht vorstellen, was passieren würde, wenn der Fluch zu seiner alten Stärke zurückfinden würde.

»Cyrian ist kein böser Mensch«, begann ich, nachdem ich mehrmals schlucken musste, »Ich denke nicht, dass er mich jemals verraten würde. Selbst wenn der Fluch wieder von ihm Besitz ergreift, kann ich mich mittels unseres Vertrags verteidigen. Also ja, ich schätze, dass wir ihm vertrauen können.«

»Wenn du ihm vertraust, dann tue ich es auch.« Der Junge nickte bedächtig, bevor er von mir abließ, »Ich soll dir übrigens von Galcha ausrichten, dass er dich sehen möchte«

Eigentlich wäre ich dieser Aufforderung nicht nachgegangen. Natürlich wollte ich den alten Troll sehen und mit eigenen Augen feststellen, dass es ihm gut ging, doch genauso wichtig war es mir, die Gräber, der gefallen Krieger zu besuchen und ihnen die letzte Ehre zu erweisen. Sie hatten ihr Leben unserer Sicherheit gewidmet und nur dank ihrem Opfer, konnten wir die Krise überstehen. Sie waren Helden. Helden, deren Namen ich niemals vergessen wollte.

Als Zeichen, das ich verstanden hatte, erhob ich mich. Während ein letzter, stechender Schmerz verklang, erkannte ich, dass ich nur ein dünnes Hemd trug, so schickte ich Tirion raus, machte mich fertig und begab mich schließlich zu Galchas Höhle.

Der fünfte GottWo Geschichten leben. Entdecke jetzt