Ich brauchte einige Sekunden, um zu realisieren, was soeben passiert war. Die Worte, die aus dem Mund des Fremden gekommen waren, klangen absolut wirr und erst langsam begann sich mir ein Muster zu ergeben, wie ein Puzzle, das sich zusammenfügte.
Überrascht blickte ich auf den Tee, den der Mann mir noch immer unter die Nase hielt. Das heiße Wasser besaß eine grünliche Farbe und der süße Geruch von Pfefferminz entstieg in Form von feinem Dampf. Sofort vernahm ich auch die Wärme, die das Getränk ausstrahlte und wie aus Reflex, griff ich nach der Quelle.
Meine Finger schlangen sich um das weiße Porzellan und sofort ging die Hitze auf mich über. Ein angenehmer Schauer durchfuhr mich und schenkte mir den ersten Moment Ruhe.
Allmählich ordneten sich meine Gedanken und der Wirbelsturm legte sich wieder. Selbst mein Herzschlag kehrte zur Normalität zurück, zusammen mit der Kraft einer Diavi, die sich erneut in meinem Herzen verschloss.
»Danke«, seufzte ich, als ich einen Schluck der flüssigen Hitze nahm. Der minzartige Geschmack verteilte sich auf meiner Zunge und sofort stieg ein Gefühl der Erfrischung in mir auf. Das war genau das, was ich gebraucht hatte.
Anstelle einer Antwort schenkte mir mein Gegenüber jedoch lediglich sein Schweigen. Nur seine Hände, die von schwarzen, fingerlosen Handschuhen umgarnt waren, vergruben sich in seinen Manteltaschen. Abwartend blickte er auf mich herab.
Erst nach einem weiteren Schluck, stellte ich das Getränk ab. Zu einem brauchte ich dieses letzte bisschen Erholung, zum anderen verlangte ich nach Antworten und die Neugierde übermannte mich immer mehr. Es gab noch so viele ungeklärte Fragen, die zurzeit den Mittelpunkt meiner Gedanken spielten.
Kaum hatte ich die Tasse auf ein fliegendes Tablett gestellt, faserten die Umrisse und der Gegenstand verblasste, als hätte eine unsichtbare Macht ihn aus dieser Welt verbannt. Kurz beobachtete ich das Spektakel, doch löste mich sofort wieder von dem Anblick. Ich brauchte Antworten und das sofort, wenn dieser Ort tatsächlich die Totenwelt darstellen sollte.
»Wo bin ich?«, hakte ich nach und wandte meinen Kopf dem silberhaarigen Mann zu. Dabei richtete ich fast schon automatisch meinen Mantel mitsamt meiner Frisur, die von dem wilden Sturz durcheinander gebracht worden war.
Der Unbekannte stieß ein Seufzen aus: »Hörst du eigentlich nie zu, wenn man mit dir redet?«
Abrupt hatte der Fremde meine vollständige Aufmerksamkeit und ich schüttelte den Kopf: »Tut mir leid, aber das ist alles etwas viel. Das ist also der Abyss?«
»Genau.«
Der Mann trat zur Seite und ermöglichte mir einen Blick in den Raum, doch zu meinem Überraschen löste sich dieser allmählich auf. Die vier Wände, die zuvor den Platz eingeschlossen hatten, verblassten. Ihre Gestalt verschwand und wandelte sich in eine Art farbigen Rauch, der in den Himmel entstieg, wo eine Sonne ihren Platz gefunden hatte.
Erstaunt vernahm ich, wie selbst die Matratze, auf der ich gesessen hatte, zu Gras wurde und die Halme zart meine Beine kitzelten. Zeitgleich breitete sich das Grün immer weiter aus, zog sich bis in die Unendlichkeit des Horizonts. Ebenso schnell fegte ein Windstoß über die Weite. Sanft wog sich das Gras im Takt des Windes und ein süßlicher Duft erfüllte meine Lungen.
Bei diesem Anblick öffnete sich mein Herz. Ich hatte schon lange keine so unberührten Flächen mehr gesehen. Die meisten Felder waren von den vielzähligen Schlachten zerstört worden. Feuer hatte ganze Landstriche in graue Ödlandschaften verwandelt, während allerlei Naturkatastrophen über Cytron hinweg gestürmt hatten. Von Tsunamis, über Tornados bis hin zu Erdbeben. Der Zorn der vier Götter hatte die ganze Welt zum erzittern gebracht.
»Schön, nicht wahr?«, riss mich die Stimme aus den Gedanken, während seine Worte plötzlich so unendlich traurig klangen, als würde der Anblick der unberührten Landschaft alte Wunden aufreißen. »So sah die Welt damals aus.«
»Damals?«, wiederholte ich, als ich mich vorsichtig erhob. Kurz taumelte ich noch von einem Bein zum anderen, doch schnell hatte ich mein Gleichgewicht wiedergefunden.
Eine Antwort bekam ich nicht sofort, stattdessen schloss der Fremde die Augen und ließ den Wind an seinen Haaren spielen. Die einzelnen Strähnen tanzten passend zur Melodie der Luft und hinterließen den Eindruck, als bestünden sie aus Seide. Er schien das Prickeln zu genießen, das die warmen Sonnenstrahlen auf seiner Haut hinterließen und atmete den himmlischen Duft ein, als wolle er den Moment für immer in seinem Herzen verinnerlichen.
»Damals als ich noch nicht verbannt war«, antwortete er mir schließlich und öffnete seine Augen wieder. Er wandte mir seinen Blick zu und durchbohrte mich mit einem Ausdruck, den ich nicht zu deuten vermochte. War es Trauer? War es Freude?
Gerade wollte ich weiter nachhaken, denn der Mann sprach noch immer in Rätseln, da unterbrach er mich: »Sicher hast du viele Fragen. Ich versuche sie zu beantworten.«
Verständnisvoll nickte ich und verlor mich in den Iriden des Fremden. Sie strahlten so viel Magie aus und doch waren sie nur ein Teil einer Fassade, hinter der ein Geheimnis lag. Zwar wusste ich selbst nicht, warum ich etwas Derartiges vermutete, doch meine Intuition rief mich dazu auf.
Ein letztes Seufzen kam über die schmalen Lippen des Mannes, bevor er mir die einzige Wahrheit schenkte: »Ich bin Cyrian, Gott von Raum und Zeit.«
Kaum war das letzte Wort im Nichts verschwunden, breiteten sich tausende Gedanken in meinem Körper aus, dennoch konnte ich mit keiner Zelle begreifen, was meine Ohren soeben vernommen hatten.
Ich öffnete den Mund, um Cyrian irgendeine Reaktion zu geben, doch entkam mir kein einziges Wort. Nur ein paar unverständliche Silben purzelten aus meiner Kehle.
So entstand eine peinliche Stille zwischen uns, die sich scheinbar endlos zog. Immer mehr Fragen wirbelten in meinem Kopf, so konnte ich auch nicht anders, als sprachlos zu bleiben. Das soll der fünfte Gott sein? Der Gott, der Cytron einst verraten hatte?
Scheinbar verunsicherte Cyrian die Stille ebenfalls, denn er presste für eine Millisekunde die Lippen aufeinander, bevor ein verzweifeltes Lächeln diese kräuselte: »So überrascht?«
Ich war mir sicher, dass sich der fünfte Gott für diese Frage selbst hätte schlagen können, immerhin stand ich vor einem lebendigen Mythos - vor einer Person, dessen Existenz ich noch vor wenigen Minuten angezweifelt hatte.
»Beweise es«, forderte ich atemlos und brachte den ersten Satz nach einer schieren Unendlichkeit heraus. Ich brauchte einfach Gewissheit, denn langsam verblasste das Bild, was ich bisher von der Welt gehabt hatte. Wenn Cyrian wirklich der war, als der er sich vorgestellt hatte, stand ich dem größten Verbrecher Cytrons gegenüber. Einem Monster, das nicht einmal vor dem Mord seiner eigenen Geschwister zurück schreckte.
Meine Forderung entfachte in dem Zeitgott eine innerliche Unruhe, denn als er seine Hände hob und auf die Stelle deutete, wo zuvor noch die Wunde des Schattens geklafft hatte, zitterte er leicht.
»Wärst du so nett sie mir zu zeigen?«, verlangte er und nach kurzem Zögern, zog ich mein Shirt ein Stück hoch. Zum Vorschein kam eine frisch verheilte Wunde, die von einer dicken Kruste versiegelt worden war. Rundherum war die Haut noch immer gereizt und färbte sich leicht rot.
»Ich habe die Wunde zwar bereits geheilt, aber...«, er stockte und schüttelte anschließend den Kopf, bevor er einen zügigen Schritt auf mich zumachte. Im selben Moment berührten seine Fingerkuppen die gereizte Haut und fuhren über sie. Sofort überzog mich eine Gänsehaut und ein warmes Gefühl breitete sich von dort aus, wo er mich berührte. Deutlich vernahm ich die Magie, die er durch meinen Körper schickte. Sie veränderte das Gefüge von Raum und Zeit und brach sämtliche Naturgesetze.
Als der Gott wieder von mir abließ und sich ein winziger Hauch von Rot auf seine Wangen legte, stockte mir der Atem. Als ich auf die Stelle blickte, wo seine Hand noch vor wenigen Augenblicken gelegen hatte, war da keine Kruste mehr, die von verletzter Haut umrandet war, sondern eine feine Narbe, die sich fast unsichtbar durch meine Haut zog.
Er war es.
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Der fünfte Gott
Fantasy»𝑍𝑒𝑖𝑡 ℎ𝑒𝑖𝑙𝑡 𝑘𝑒𝑖𝑛𝑒 𝑊𝑢𝑛𝑑𝑒𝑛 𝑢𝑛𝑑 𝐺𝑜̈𝑡𝑡𝑒𝑟 𝑠𝑐ℎ𝑜𝑛 𝑔𝑎𝑟 𝑛𝑖𝑐ℎ𝑡.« Seit Jahrtausenden herrschen die vier Götter Argon, Enja, Kalani und Cleo über die magische Welt Cytron. Zusammen mit ihren Verwandten, besonderen Personen...