34 - Freund meines Freundes?

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Zum bestimmt dreißigsten Mal zählte Elijah die winzigen Kratzer, die jemand, der wohl genauso nervös gewesen war wie er in diesem Moment, mit einem scharfen Messer von hinten in das Sitzpolster des Fahrersitzes geschnitten hatte.

Vier, fünf, sechs. Sieben, wenn er den kleinen, oberflächlichen auch noch mitzählte. Es waren saubere, leichte Schnitte, ohne Fransen. Beinahe, als stammten sie von einem besonders penibel geschärftem Jagdmesser. Oder einem Skalpell...

Er schüttelte unwillkürlich den Kopf und schloss die Lider, doch das Bild von sterilen Krankenhaussälen und grellgrünen Einweghandschuhen vor seinem inneren Auge blieb bestehen. Ein Königreich für gute medizinische Versorgung. Oder einen Krankenwagen. Doch selbst vor der Apokalypse wäre dieser Wunsch hier in Amerika wohl auf taube Ohren gestoßen.

Mit einem leisen, leidgeprüften Seufzer richtete er seinen Blick wieder starr aus dem Fenster des ruckelnden Jeeps, wie er es die letzten eineinhalb Stunden über getan hatte und versuchte nun, die Bodenwellen zu zählen, über die sie fuhren, während die Landschaft in verwischten, dunkelgrünen Schlieren an ihm vorüberzog, die nur ab und zu von einzelnen kahlen Bäumen durchbrochen wurde. Er wusste jedoch nicht, ob dieser Effekt tatsächlich von der Natur oder seiner inneren Unruhe ausgelöst wurde. Die Schule hatten sie zwar schon seit mehreren Minuten hinter sich gelassen, doch trotzdem spürte er noch immer ihren unheilvollen Sog in den Eingeweiden. Er biss sich auf die Unterlippe und versuchte tunlichst, jeden Blick nach links zu vermeiden.

Ein leises, raschelndes Geräusch verriet ihm, das Negan neben ihm wieder damit begonnen hatte, unruhig auf seinen Nägeln herumzukauen und er widerstand nur mühsam dem Drang, ein genervtes Aufstöhnen von sich zu geben. Eine Wellte von Ekel überrollte Elijah bei dem Geräusch und er atmete tief ein, obwohl er nicht sagen konnte, was genau ihn daran so abstieß.

Negan wandte abrupt den Kopf zu ihm um, als hätte er gespürt, dass der andere Mann angefangen hatte, ihn missbilligend anzustarren. Elijah war dem Anführer der Erlöser noch nie so nahe gewesen und es bereitete ihm Unbehagen zu wissen, dass diese Hände, die für den Tod von so vielen verantwortlich sein mussten, nun neben ihm auf dem Polster des Wagens lagen... mit bis aufs Nagelbett abgeknabberten Fingernägeln. Schnell richtete er den Blick wieder nach oben, um das unschöne Desaster nicht sehen zu müssen.

Etwas Neues lag in diesen dunklen, grün-braunen Augen (noch nie zuvor hatte Elijah sich Gedanken über Negans Augenfarbe gemacht), das ihm bei ihrem letzten Treffen nicht aufgefallen war. Eine tiefe Traurigkeit, die über die reine Reaktion auf das plötzliche Bündnis zwischen Auferstandenen und Erlösern hinausging, jedoch nicht existenziell genug für einen Mann war, der soeben dem Tod direkt ins Auge blickte.

Negan schwieg. Elijah sagte nichts. Immer noch nicht. Auch wenn ihm so viele Fragen auf der Zunge lagen, die er dem Anführer der verfeindeten Gemeinschaft stellen wollte, dass er bestimmt ein Buch damit hätte füllen können. Doch sie alle wirbelten mit einer solchen rasanten Geschwindigkeit durch seine überhitzten Synapsen, dass er sich nicht für eine einzige entscheiden konnte. Wenn er den Mund öffnete, würde seine Stimme bestimmt nichts als Kauderwelsch ans Tageslicht befördern.

So entschied er sich also stattdessen für Schweigen. Unangenehmes, beunruhigendes, schmerzhaftes Schweigen. Und allem Anschein nach hatte Negan daran nichts auszusetzen. Seitdem sie ihn getroffen hatten, hatte er keine Anstalten mehr gemacht, sich irgendwie zu erklären. Nicht, wie er es geschafft hatte, sich während seiner Rettung beißen zu lassen, noch, warum er Ellies Rucksack um die Schulter getragen hatte, als es passiert war. Oder was in den letzten Tagen in der Schule wirklich passiert war, die sie offensichtlich miteinander verbracht und irgendwie zusammen überlebt hatten. Die Ungewissheit brachte Elijah schier um den Verstand und er konnte nicht verhindern, dass sein Fuß immer wieder unruhig auf und ab wippte.

SAVED - Der letzte Tag auf Erden // Eine The Walking Dead FanfictionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt