2. Kapitel

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Drei Wochen nachdem ich den Brief erhalten und mich mit meiner Zustimmung selbst in die Verbannung geschickt hatte, nahm meine Ma mich mit nach London. Die ganze Zeit über hatte ich nur das nötigste mit ihr gesprochen, was allerdings auch nicht so schwer war, da Ma von morgenfrüh bis abendspät arbeitete. Zu gern wäre ich zu Joanne geflohen, doch da sie nicht da war, blieb mir nichts anderes übrig, als mich alleine zu beschäftigen. Aus lauter Langeweile hatte ich sogar das grosse, schwere Geschichtsbuch meiner Ma aus dem Regal gezogen und zu lesen begonnen. Es ging um die Hexenverfolgungen im 17. Jahrhundert. Weshalb Ma ein Buch über die Hexenverfolgungen im 17. Jahrhundert hatte, wusste ich allerdings nicht. Nun ja, sie war meine Ma und Ma war schon immer seltsam gewesen. Ich hatte es längst aufgegeben, ihre Entscheidungen zu verstehen. Und wenn ich es doch einmal versuchte, handelte ich mir nur Kopfschmerzen ein.

«Jetzt komm endlich, Adrienne!», schnauzte mich meine Mutter an, packte mich am Arm und zog mich von ihrem Geschäftswagen weg. Ein schwarzer Geländewagen mit Allradantrieb. Weshalb eine gewöhnliche Bankangestellte, die tagein tagaus im Büro sass, einen solchen Wagen brauchte, war mir schleierhaft.

«Adrienne!», mahnte mich meine Mutter und zog mich eine geschäftige Strasse entlang, die von Läden aller Art gesäumt war. Ein Strassenschild verkündete, dass wir uns in der Charing Cross Road befanden. Meine Ma führte mich an gewöhnlichen Kleidergeschäften, Cafés, Detailhändler und Coiffeursalons vorbei. Keines der Geschäfte sah aus, als hätten sie Zauberstäbe oder Zaubertrankkessel im Angebot. Der Bluff meiner Mutter mit der Zaubererschule würde wohl bald auffliegen. Es gab schliesslich keine Magie und dieses Hogwarts war nur irgendein Internat in Schottland. Möglichst weit von London entfernt, damit Ma mich auch wirklich für das ganze Jahr los war.

Meine Mutter liess sich nichts anmerken. Zielstrebig zog sie mich zu einer Buchhandlung, die auf mich jedoch nicht so wirkte, als könne man dort Zauberbücher kaufen – auch wenn ein grosses Plakat im Schaufenster für eine illustrierte Sammelausgabe der Chroniken von Narnia warb und ein anderes die grosse Fantasy-Abteilung anpries.

Erst als wir die Buchhandlung schon fast erreicht hatten, fiel mir das lottrige Türschild über dem Eingang des benachbarten Geschäfts auf. Zum Tropfenden Kessel hiess es da. Es schien ein Pub zu sein – einer von der Sorte die zu betreten Ma mir strengstens verboten hatte. Jetzt steuerte sie direkt darauf zu und hielt mir die Tür auf. Zögernd trat ich ein. Es sah nicht anders aus, als in jedem anderen Pub. Tische, Bänke, Stühle und ein paar Leute, die beisammensassen, Tee tranken - oder stärkeres - und plauderten. Zielsicher führte meine Mutter mich durch den Pub und durch eine Hintertür in einen kleinen Hinterhof, der von einer Backsteinmauer eingefasst war und in dem es nichts zu sehen gab ausser ein paar rostigen, alten Mülltonnen. Kritisch musterte meine Ma die Ziegelsteine und tippte dann gegen einen Stein. Und plötzlich glitt die Mauer auseinander und gab den Blick auf eine lange, gewundene Strasse frei. Mir fiel die Kinnlade herunter, denn diese Strasse war so offensichtlich anders als alle anderen Strassen, die ich je gesehen hatte, dass in mir leise Zweifel aufkamen. Vielleicht war diese ganze Hexen-und-Zauberer-Geschichte doch kein Bluff. Aber nein, weshalb sollte meine Ma dann wissen, wo man Zauberstäbe und so weiter kaufen konnte. Sie jedenfalls war ganz bestimmt keine Hexe, auch wenn sie sich manchmal wie eine benahm.

«Willkommen in der Winkelgasse», war die einzige Erklärung, die Ma dazu abgab.

Meine Mutter ging voraus, drängte sich durch die bunte Menge und ich hatte Mühe, sie nicht zu verlieren. Gerne hätte ich mir die Auslagen in den Schaufenstern angesehen, doch an einem Ort, der mir so völlig fremd war, wollte ich nicht verloren gehen. Und so folgte ich Ma, die auf einen prachtvollen, weissen Marmorbau zu hielt.

Am Eingang des Gebäudes, vor einem blankpolierten Bronzetor, standen zwei Wächter in scharlachrot und golden bestickter Uniform. Entsetzt starrte ich sie an. Die Wächter waren keine kleinwüchsigen Menschen, wie ich erst gedacht hatte, sondern ... etwas ganz anderes. Spitze Ohren und ebenso spitze Zähne, ein seltsam geformtes Gesicht, unglaublich lange Finger, die nach oben gebogen waren, und Käferaugen.

Unausgesprochene Geheimnisse - Adrienne Seanorth (HP FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt