10. Naglfar

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Niemand hatte es erwartet San so schnell wiederzusehen.

Wir waren drei Tage lang durch einen dichten Nebel an der Küste entlang gesegelt, an Spanien und Portugal vorbei und gen England, befanden uns mehr oder weniger auf der Zielgeraden, als Yunho schwarze Segel in der trüben Suppe sichtete.

Zu gerne hätten wir es bei den Segeln belassen, doch das eigenartige Schweigen, das Yunho danach so untypisch vereinnahmte und das sonst sonnige Gesicht zur leeren Maske werden ließ, machte uns alle stutzig.

Ich brauchte nicht selbst nachzusehen, als Hongjoongs scharfes Zischen mir bereits alles gesagt hatte, kaum nahm auch er das Fernrohr herunter. Die Männer waren angespannt, sahen dem drohenden Schatten des eigenartig bleichen Schiffes furchtvoll entgegen, während Seonghwa mit gerunzelter Stirn das schwarz wirkende Meer unter uns im Blick behielt.

"Ich werde mit ihm reden. Geht unter Deck.", kam der einzige, klare Befehl des Kapitäns und keiner wagte noch ein Wort, jeder suchte sich beklommen seine Ecke.

Ich plante zuerst Yeosang unruhig zu unseren Quartieren zu folgen, aber Seonghwa fing mich sanft an der Schulter ab, wandte mich um und direkt in die Kapitänskajüte. Akuma trottete uns treu hinterher, fand still vor dem Bett Platz, kaum war die Tür geschlossen.

Während es mich zuerst reizte zu lauschen und heimlich zu beobachten, was draußen geschah, so begann Seonghwa mit festen Schritten die Kajüte zu durchqueren, um durch die trüben Fenster hinter Hongjoongs Bett zu spähen, der Ausdruck nachdenklich.

"Stimmt etwas nicht?"

Er sah nicht zu mir auf, als er übereilt zum Schreibtisch zurückkehrte, gezielt begann in einem noch offenen Buch zu blättern.

"Das da draußen ist Naglfar, ein Schiff gebaut aus den Nägeln der Toten. Loki rüstet zum Kampf und ihn begleitet sein Kind..." Er sprach hastig, einige alte Seiten knickten unangenehm unter seinen groben Händen, dann verharrte er, die Finger zitternd, wo sie über eine vergilbte Seite glitten.

Schluckend trat ich näher, mein Herz ohnehin in meinem Hals vor Nervosität und Furcht um Hongjoong. Seonghwa fiel das Haar ungeordnet in die Stirn, verbarg aber kaum seine angespannten Hände und Lippen. Meine Hand fand tröstend seine Schulter, als auch ich auf das Buch hinab spähte.

Jörmungandr. Eine gigantische Schlange, laut Legende eines der drei Kinder Lokis, die sich zu Ragnarök erheben würde, um die Welt in Wasser und Gift zu tränken. Sie würde ihr Ende durch Thor finden, der danach gleichermaßen ihrem Gift erlegen würde.

Ich presste unruhig die Lippen aufeinander, als eine Erinnerung in mir herauf kam, das vorherige Bild, wie Seonghwa versonnen ins dunkle Meer hinab starrte so vertraut in meinem Gedächtnis.

"Ich habe ihn schon einmal mit ihr sprechen gehört. Damals, ganz am Anfang, bevor ich zur Crew gehörte.", flüsterte ich fast tonlos und Seonghwa wandte mir besorgt den Blick zu, biss unruhig seine Lippe, als er von mir zur Tür sah.

"Sie führt das Schiff der Toten. Und ist momentan vermutlich direkt unter uns. Wir wären tot, bevor wir wüssten, wie uns geschieht."

Seonghwas Körper zitterte unter meinen Fingern und ich erschauderte unruhig mit, versuchte mir unsere derzeitige Lage, das Grauen in den Tiefen nicht zu genau vorzustellen. Kaum Trost war noch möglich, die nackte Angst spiegelte sich kalt im Raum und jede Sekunde vertickte quälend.

Wir verharrten so und lauschten auf jedes kleine Geräusch, testeten die gleichbleibenden Wellen unter dem Schiff mit unserer Balance.

Als dann gefühlte Jahre später mit einem Mal die Tür aufflog und krachend gegen die Wand schmetterte, schrie ich erschrocken auf und Seonghwa riss mich in einem plötzlichen Impuls hinter sich, sein Rücken angespannt.

Aber es war nur Hongjoong, absolut unversehrt und mit einem bewusstlosen Wooyoung in seinen Armen. Sein panischer Blick sprach allerdings eine ganz andere Sprache, als seine schützenden Arme mit dem Jungen darin und Seonghwa stürzte vorwärts, um ihm zu helfen.

"Holt Yunho. Ihr müsst auf der Stelle alle vom Meer herunter. Er hat sie nicht unter Kontrolle.", flüsterte der Kapitän mit weiten Augen, während er Wooyung übergab und ohne weiteres rannte ich los, suchte hektisch das Schiff nach dem Mann ab.

Naglfar entfernte sich bereits wieder, ein dunkler Schatten im Nebel, der knarzend durch die See schnitt und Angst und Schrecken verbreiten ging. Ich wünschte, ich hätte San noch ein letztes Mal gesehen, ihm sagen können, dass wir ihm verziehen, aber ich musste mich wohl darauf verlassen, dass Hongjoong das getan hatte.

Yunho ließ sich bei Yeosang finden und beide eilten mir bekümmert über das Schiff hinterher, langsam weckte das Getrappel auch den Rest wieder aus ihrer Furcht.

"Yunho du bringst Wooyoung sicher an Land und verlässt seine Seite nicht, er wird sich wehren! Seonghwa und Yeosang, ihr werdet alle Kräfte aufbringen, um euch direkt an den Strand zu schwemmen, keiner von euch hat noch das Meer zu berühren, verstanden?", bellte Hongjoong seine Befehle über das Deck, riss sich währenddessen Hut und Maske vom Kopf, um sie mir nachlässig in die Arme zu drücken.

Perplex nahm ich sie ihm einfach nur ab, die Verwirrung stieg erst dann, als auch noch seine Jacke darauf landete und er seine schweren Stiefel von seinen Füßen kickte. Unsicher suchte ich seinen Blick, wurde aber übergangen, als er eilig über das Deck sah.

Yunho rauschte mit Wooyung in den Klauen davon, Seonghwa und Yeosang begannen bereits die Stürme und Wellen zu rufen und uns beschleunigt auf die nahe Küste zu zu treiben. Hongjoong murmelte mehr zu sich selbst, aber ich hörte ihn womöglich auch als einzige.

"Ich lenke sie ab."

Nein.

Meine Hand schoss reflexartig vor, um ihn am Handgelenk zu packen, voller Entsetzen auf seine schmale Form zu starren in nichts als seinen schwarzen Hosen und dem weißen Hemd, das er halb offen trug.

"Hongjoong." Meine Stimme brach gegen Ende seines Namens und sein Blick erweichte in seinen gejagten Augen, die Finger sanft, als sie bestimmt meine Hand von ihm lösten.

"Geh mit Daehyun. Wartet nicht auf mich." Er griff über den Berg Klamotten in meinen Armen hinweg nach meinem Gesicht und zog mich am Kinn sanft etwas zu sich, um in einem gewagten Schritt den Kopf zu neigen und einen flüchtigen Kuss auf meiner Wange zu hinterlassen, seine bebenden Lippen unendlich sanft auf meiner Haut.

Mir war schwindelig, meine Beine drohten unter mir nachzugeben, als er sofort wieder respektvoll zurücktrat und ich schaffte es nicht einmal rot zu werden, so sehr hatte mein Körper abgeschalten.

Hongjoong lächelte breit und winkte mir mit beiden Händen - so eine hinreissende Geste, so unschuldig - und es lenkte mich lange genug ab.

Dann wandte er sich um und sprang über die Reling.

Ein gequälter Schrei entkam meinen Lippen, als ich hinterher stürzte, seine Schuhe am Boden eine wohlgestellte Stolperfalle.

Ein warmer Arm fing mich ab, bevor ich fallen konnte oder schlimmer noch - in allem Leichtsinn hinterher springen und ungläubig hing ich schlaff in Jonghos Griff, versuchte zu begreifen, was geschah.

Ein plötzlicher Ruck stieß das Schiff noch schneller vorwärts; viel schneller, als ein normaler Wind uns je treiben könnte, rasten wir auf das Land zu und Jongho musste mich eng an sich pressen, um sich mit der anderen an der schwankenden Reling fest zu klammern.

"Er ist gesprungen. Er ist in das Meer gesprungen, in dem eine gigantische Seeschlange umherschwimmt.", flüsterte ich unhörbar in den Wind, bekam kaum Luft in meiner Panik und dem Zug.

Der Gedanke holte noch nicht mit mir auf und ich war dankbar darum.

Aber rückblickend hatte jeder zu diesem Zeitpunkt bereits gewusst, dass wir Hongjoong verloren hatten, außer mir. Und niemand hatte es gewagt sich seiner Entscheidung entgegen zu stellen.

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