Montagmorgen. Die Realität hat schnelle Beine

2 1 0
                                    

"Was ist das?", die Stimme ihrer Mutter schnitt schärfer als das Buttermesser durch die Kaffeeluft des Frühstückstisches.
"Hm?", Jess blickte auf. Ihre Gedanken waren immer noch damit beschäftigt, nicht in dem Sumpf zu versinken, in den ihr Gehirn sich morgens zu Weilen verwandelte.
"Ich meinte das hier", sie klatschte ein Blatt Papier vor ihr auf den Tisch.
"Was soll schon sein", Jess rieb sich ihre Augen.
Sie hatte die Nacht damit verbracht, im Internet nach Kampfmessern zu recherchieren... wenn sie ein gutes fände und dazu einen Weg, es in ihren Besitz zu bringen, würde sie nicht immer das der Vampirjäger benutzen müssen.
Schlaftrunkend zog sie das Schriftstück näher an sich heran.

Sehr geehrte Frau Wiskon, ihre Augen wanderten unbeteiligt an den Zeilen entlang, wir suchen ihnen auf diesem Wege mitzuteilen, dass ihre Tochter, Jessica Wiskon, bereits seit mehreren Wochen verstärkt dem Unterricht ferngeblieben ist...

Jess blinzelte, als sie versuchte, den umständlichen Worten einen Sinn zu geben. "Dem Unterricht ferngeblieben". Ja, sie hatte gefehlt in den letzten Wochen, sie war beim Training gewesen, und...
Oh, verdammt
Sie hatten ihre Mutter benachrichtigt!
Sie hatten einen Brief nach Hause geschrieben, in dem sie ihre Schwänzereien verrieten.
Vor Schreck verschluckte Jess sich an ihrem Brot.
"Mum...", sie hustete Krümmel aus, "es ist nicht so wie es aussieht, ich schwöre...."
"Was ist es denn dann?", erkundigte die sich spitz, "Jess, das hier ist ernst. Wo treibst du dich herum?"
In einer Scheune voller Waffen und durchgeknallter Leute.
"Nein Mum; hör zu", sie setzte eine Grabesmiene auf, "es... es ist Su, weißt du?"
"Was hat Su damit zu tun?", fragte ihre Mutter misstrauisch.
"Sie ist... krank! Sehr krank", Jess nickte so traurig wie sie konnte.
"Wie bitte?", die Stimme ihrer Mutter strotzte geradezu vor Ungläubigkeit.
"Na, ihr Großvater hatte doch... wie heißt es noch gleich... diese komplizierte Krankheit mit den... den Buchstaben. Und, tja, da hat sie sich wohl angesteckt... kann das Bett seit Wochen nicht verlassen. Und da dachte ich, naja, ich komme sie mal besuchen, so zwischendrin..."
Die Falte auf der Stirn ihrer Mutter vertiefte sich: "Su's Großvater ist bei einem Autounfall vor dreißig Jahren gestorben."
"Oh, ähm...", shit!
"Vielleicht war es auch der Großonkel, so genau habe ich nicht nachgefragt."
"Und wieso solltest du Su vormittags besuchen und nicht nachmittags?"
"Wegen... ähm, also, dass ist so..."
"Hör auf mich anzulügen, Jess!", das Gesicht ihrer Mutter kam näher, "wo treibst du dich rum?"
Jess öffnete ihren Mund, klappte ihn jedoch gleich darauf wieder zu, wie ein Fisch.
Was sollte sie darauf antworten?
Viel wichtiger, was würde ihre Mutter ihr abnehmen?
Die Wahrheit nicht. Das war schnon mal beruhigend, im Hinterkopf zu halten. Aber was dann?
Was wollte sie hören?
"Ich... bin in der Stadt gewesen...?", testete sie vorsichtig.
"Was um alles in der Welt denkst du dir dabei?", zischte ihre Mutter.
Jess entspannte sich leicht. Sie glaubte es.
Störrisch zuckte sie mit den Schultern.
"Was schon?", nuschelte sie in ihr Frühstück hinein
Nein, wirklich, was? Was wäre eine glaubhafte Antwort auf die Frage ihrer Mutter?
"Was schon?", wiederholte ihre Mutter erregt, "was schon?? Jess, du bist sechzehn. Einige deines Alters sind in ihrem letzten Schuljahr, diese Noten sind wichtig! Und du, du fehlst einfach. Wochenlang!! Du hast sogar eine Klassenarbeit verpasst! Wenn es nur so ein oder zweimal wäre, würde ich ja nichts sagen, aber so..."
"Hreehm, eh...", räusperte Jess sich und schluckte den letzten Bissen ihres Brotes hinunter, "mmmh, tut mir leid?"
"Schau mich gefälligst an, wenn du mit mir redest!"
"Okay, okay!", Jess drehte sich halb auf dem Stuhl herum, "Entschuldigung! Ist es das, was du hören willst?"
"Was ich hören will", zischte ihre Mutter, "ist, das du nie wieder in so einem Ausmaße die Schule schwänzt. Und auch in keinem anderen Ausmaße. Und für dich, meine Dame, hoffe ich, dass ich das auch tue."
Nie mehr die... aber wie sollte sie dann ihren Trainingsrythmus beibehalten?
Sie schluckte.
Ausgerechnet jetzt, wo sie das Messerwerfen endlich relativ zuverlässig draufhatte.
"Aber...", versuchte sie.
"Kein 'aber' ", schimpfte ihre Mutter, "da gibt es kein 'aber'. Du gehst zur Schule und lässt diesen Mist bleiben, da gibt es keine Diskussionen!"
Das ist kein Mist!,
So lag es ihr schons auf der Zunge, aber im letzten Moment verbiss sie es sich doch, so fest, das ein paar Blutstropfen von hinten gegen ihre Zähne spritzten und Tränen in ihre Augen schossen.
Bescheuerte Frau.
Bescheuerte Schule, bescheuerte Welt.
Wieso konnten sie alle sie nicht einfach machen lassen, was sie wollte?
Was sie musste, um eine gute Vampirjägerin zu werden.
Sollten sie doch zu sehen, wie sie klarkamen, wenn sie selbst eines Tages über eines dieser Monster stolperten. Sie würde dann nicht in der Lage sein, zu helfen, nicht ohne training.
Selbst Schuld.
Jess fuhr sich wütend mit dem Ärmel über die Augen und sprang vom Tisch auf.
"Dann gehe ich jetzt mal", spuckte sie ihrer Mutter entgegen, "sonst komme ich noch zu spät."
Die Tasche.
Die Tür.
Knall.
Was jetzt?

"Ich weiß, dass du mich ansiehst", Su warf einen strengen Blick in seine Richtung.
"Ich... Blödsinn!", Quinn hob abwehrend die Hände. Nicht, dass sie das mitbekommen würde.
"Lüg nicht, Spinner", sie vergrub ihr Gesicht wieder hinter den Seiten ihres aktuellen Buches - Meereshelden, von ihrer Lieblingsautorin - und damit verschwanden auch die roten Flecken, die Quinn so Sorge bereitegen wieder aus seinem Sichtfeld.
Es waren die Stellen, an denen ihr am Wochenende das Vampirblut hingespritzt war und die sie nur notdürftig hatte sauber schrubben können. Jedenfalls bis sie beschlossen hatte, dass sie etwas wunde Haut in Kauf nehmen würde um zu verhindern das jemand sie auf das schwarze Blut ansprach.
Das Zeug war schlimmer als Kaugummi im Haar.
Es war nicht so, dass ihn die roten Flecken an sich stören würden, nein, das wäre ja Blödsinn.
Noch vor zwei Jahren hatte Su sich das Gesicht beim Fahrrad fahren viel schlimmer aufgeratscht, ihr Kinn wurde seitdem von einer handvoll unauffälliger, fein weißer Narben geziert.
Nein, es war die schlichte Tatsache, dass sie von ihren nächtlichen Abenteuern so deutliche Spuren davon trug.
Heute waren es nur ein paar Flecken Vampirblut im Gesicht, morgen vielleicht ein gebrochener Arm, und dann?
Er wusste, dass sie seine Bedenken nicht hören wollte. Sie war dickköpfig.
Mit getunzeltet Stirn ließ er seinen Kopf auf seine verschränkten Arme sinken.
Er überlegte ernsthaft, Jess bei Nacht als gemeiner Geist aufzusuchen und sie zum Aufhören überreden solle - schließlich war sie der einzige Grund für Su, überhaupt bei dem ganzen Zirkus mitzumachen.
Nur hätte seine Freunding garantiert davon erfahren.
Außerdem wäre es ein weiterer Regelverstoß gewesen.
Lautlos seuftzte er.
Das war bei weitem nicht sein einziges Problem.
Düster dachte er an den vergangenen Samstag zurück. Natürlich, er wusste, das die Wesem der Schatten einander spüren konnten, aber...
Er hatte nicht daran gedacht.
Er hatte es vergessen gehabt, in all diesem Durcheinander um die Vampirjagd, und dann, als der eine Blutsauger witternd die Nase gehoben hatte, war es ihm siedendheiß wieder eingefallen.
Sie hatten Glück gehabt - Vampire kümmerten sich nicht um herumstreunende Unsichtbare. Sie konnten mit ihnen nichts anfangen, und sie stellten keine Gefahr da für sie.
Trotzdem, wer wusste, ob seine Gegenwart in der Zukunft nicht doch die Aufmerksamkeit eines anderen Exemplared auf die kleine Jägergruppe lenken würde - auf Jess, auf Su?
Das wollte er nun wirklich auf gar keinen Fall.
Er würde seine sie nicht zu ihren nächsten Einsätzen begleiten können.
Der Gedanke wog so schwer, das er ihn, den Körperlosen, beinahe in den Boden, tief in das Pflaster herein zog.
Verstimmt verschränkte er seine Arme vor seiner rauen Tunika.
Wenn er sich nur vorstellte, was alles passieren könnte, und...
Su klappte ihr Buch zusammen und schlug damit vage in die Richtung seines Kopfes.
"Ich habe dir gesagt, guck mich nicht so an, du Depp!"
Es war nicht ernst gemeint, natürlich nicht.
Trotzdem, er hätte heulen können.
Und sie würde es nicht einmal bemerken.

BatsongWo Geschichten leben. Entdecke jetzt