Samstag Abend, here we go again

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"Wann genau holt Chrissie dich ab?", fragte Jess Mutter, während sie ihre Brille zurecht rückte um eine Rechnung zu lesen.
"Irgendwann gegen acht", Jess stopfte sich im Vorrübergehen eine Brotscheibe in den Mund.
"Und wie lange hast du vor, zu bleiben?", mit gerunzelter Stirn blickte sie über das Blatt Papier hinweg auf ihre Tochter.
"Mum", Jess verdrehte die Augen, "muss das jetzt sein?"
"Ich will nicht wieder um vier Uhr morgens von klappernden Türen geweckt werden", ihre Mutter legte die Rechnungen beiseite, "abgesehen davon: musst du wirklich jedes Wochenende raus?"
"Mum!"
"Du bist kaum zuhause! Immer, wenn ich...", setzte sie zu einer Tirade an, wurde aber vom Leuten der Türklingel übertönt.
"Sorry, Ma!", bevor ihre Mutter wieder beginnen konnte, griff Jess nach ihrer Tasche und huschte in Richtung Eingangstür, "Ich bin morgen früh wieder da. Wir sehen uns beim Mittagessen."
Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss.
"Nicht begeistert, was?", Chrissie wartete draußen.
"Ist sie doch nie", Jess warf theatralisch ihre Arme in die Höhe und folgte ihrer Freundin ins Auto.

Die Musik dröhnte laut durch die Garage, die für die Feier vorgesehen war, und bunte Lichtflecken tanzten an den dunklen Wänden dazu.
In einem Kreis von Freunden und mit einem Becher in der Hand hatte Jess es sich auf einem der Klappstühle in einer etwas ruhigeren Ecke bequem gemacht.
"Kaum zu fassen, dass er jetzt wieder mit dieser Kuh ausgeht", Lisa rümpfte missbilligend die Nase und nickte zu einem Jungen aus der Parallelklasse herüber, der einen Arm um ein zierliches, blondes Mädchen gelegt hatte.
"Ich dachte, sie hätten dich getrennt", stirnrunzelnd nippte Chrissie an ihrem Getränk und verzog gleich darauf angewiedert ihr Gesicht: "Bah! Ich dachte ich hatte Colakorn bestellt und keinen Schnaps pur! Wie mischen die denn bitte?!"
Jess nahm ihr den Plastikbecher aus der Hand und roch daran.
"Ziemlich großzügig, wie es scheint", grinste sie dann, "aber das ist schließlich auch Timothy hinter der Theke. Das ist wahrscheinlich die Rache für das Pfefferminzzeug, dass du ihm auf dem letzten Klassenabschluss in die Cola gekippt hast. Weißt du noch?"
"So ein verdammter...", was Chrissie noch über Timothy dachte ging in einer Welle von Gejohle unter. Das Geburtstagskind war soeben auf einen Tisch gesprungen und schüttete Bier über diejenigem seiner Gäste, die das Pech hatten, in seiner Nähe zu stehen.
"Das nenne ich eine Party", Jackie, die vorlaute Afroamerikanerin mit Lizenz zum Klassenclown schüttelte belustigt den Kopf, "was sitzen wir eigentlich noch hier? Lasst uns auch da rüber gehen!"
"Noch nicht", stöhnte Lisa, "meine Beine sind wie aus Pudding!"
"Das liegt aber nicht am Tanzen", kicherte Chrissie und kippte noch einen Schluck ihrer Teufelsmischung herunter.
"Hmpf", machte Jackie, "alleine geh ich nicht. Ich will ja schließlich nicht so enden."
Sie nickte zum Mischpult des DJs herüber, der eigentlich nur der ältere Bruder von Jaspers bestem Freund war.
Direkt im dicksten Dunst der Nebelmaschine, tanzte Su. Um sie herum war die Tanzfläche mehrere Armlängen weit leer.
Ein leichtes Lächeln lag auf ihrem ausnahmsweiße entspannten Gesicht, und ihre schwarzen Haare flogen hinter ihr her wie die Flügel eines Raben.
Jess' Handgriff um ihren Becher verkrampfte sich. Das dünne, malätrierte Plastik gab ein gequälted Knautschen von sich.
"Ach, komm schon, Jess", Lisa hatte ihren Unmut bemerkt, "Du musst zugeben, dass Jackie nicht ganz unrecht hat. Ich weiß nicht eimal, was diese Su hier will. Ich meine, es ist nicht so, als ob sie wirklich an der Gesellschaft von irgendwem intetessiert ist. Und schau dir das an, dass ist einfach nur erbärmlich. Die kann nicht mal wirklich tanzen!"
"Sie tanzt mindestens genauso gut wie du, Zappelphillip", erwiderte Jess kalt.
"Jess. Wollen wir uns jetzt wirklich über diese Sache streiten?", Jackie legte einen sanften Tonfall in ihre Stimme, "Wir sind schließlich zum Spaß haben hier."
"Ich glaube, ich hole mir nochmal was zu trinken", Jess stand abrupt auf und bahnte sich einen Weg aus dem Kreis ihrer Freundinnen heraus.
"Bring mir noch eine Co-Cola mit", kicherte Chrissie und kippte dabei gegen Lisas Schulter.
Jess antwortete nicht.
Es brachte sie jedesmal zur Weißglut, wenn ihre Freunde begannen, über Su herzuziehen. Sie kannten sie doch alle gar nicht. Keiner von ihnen.
Warum ließen sie sie dann nicht einfach in Ruhe.
Was Lisa gesagt hatte, war nicht wahr. Su tanzte sogar recht gut, soweit Jess das beurteilen konnte. Sie tat es nur etwas anders als alle anderen. Aber so war es ja im Grunde mit jedem Bereich von Sus Leben, warum also nicht auch hier?
Immerhin, Su hatte zumindest den Mut dazu. Auch, wenn Jess sich fragte, ob ihre beste Freudin sich mit Absicht im dichten Nebel verbarg. Wohlmöglich setzten setzten ihr die bösen Zungen der Schule mehr zu, als sie durchblicken ließ.
Seufzend lehnte Jess sich mit den Ellenbogen gegen die behelfsmäßige Bar, die Jasper aufgestellt hatte. "Wegen dem Ambiente", wie er gesagt hatte.
"Brauchst du was zu trinken?", eine allzu vertraute Stimme dicht neben ihr ließ sie aufschrecken.
"Jason!", quitschte sie, viel zu hoch für ihren Geschmack, "Was", sie räusperte sich, "was machst du denn hier?"
"Hoffen, dass du auch kommst?", sein hoffnungsvolles, bettelndes Lächeln verursachte bei Jess beinahe einen Brechreiz.
"Ich... ähm... wollte eigentlich nur..."
"Lauf nicht schon wieder weg", er blockierte ihren Weg mit seinem Arm, "Bitte."
"Jason...", Jess versuchte sich an ihm vorbei zu zwängen, "Ich muss wirklich noch woanders hin..."
"Du gehst mir aus dem Weg", fuhr er traurig fort, "Ich möchte einfach nur wissen, was ich getan habe, dass ich..."
Du stehst mir im Weg, du Idiot!
"Wir hatten das besprochen. Es ist vorbei."
"Ich glaube nicht, dass es vorbei ist, Jess. Ich liebe dich."
"Okay, jetzt reicht es wirklich", Jess verpasste ihm einen etwas stärkeren Stoß gegen die Brust und schlüpfte dann, als er taumelte, an ihm vorbei. "Geh doch einfach mit Finja aus", rief sie ihm über die Schulter zu, "Sie ist definitiv hübsch genug für dich."
Dann tauchte sie wieder in die Menschenmasse unter und versuchte, möglichst viel Platz zwischen sich und Jason zu bringen.

"Ich mag die Sterne", murmelte Quin verträumt.
"Ja, ich auch", Su lehnte ihren Kopf nach links, dorthin, wo sie wusste, das Quins Schulter liegen musste. Sehen konnte sie es nicht.
Quinn war unsichtbar.
Su war vier Jahre alt gewesen, als sie zum ersten Mal Kontakt zu dieser anderen, geheimnisvolleren Welt gehabt hatte. Aus der leeren Luft heraus hatte damals ein kleiner, gleichaltriger Junge gefragt, ob er mispielen dürfe. Und Su, die damals absolut begeistert von der Idee eines echten, unsichtbaren Freundes war, hatte auf der Stelle zugestimmt. Und ab da waren sie Freunde geblieben.
Quinn war schon unsichtbar auf die Welt hekommen. So glaubte er zumindest. Er hatte Su erzählt, dass seine erste Erinnerung das ziellose herumirren zwischen den Beinen fremder Menschen, die ihn allesamt nicht wahrnahmen, war. Wenn er einen Vater oder eine Mutter hatte, hatte er sie nie getroffen. Josh hatte ihn aufgezogen. Josh, ein unsichtbarer, wie er selbst, der den kleinen Jungen irgendwann auf der Straße gefunden und mitgenommen hatte. Die unsichtbare Welt, wie Quinn es nannte, war um einiges rauer als die sichtbare. Es gab keine Regeln, bis auf diese eine: Sprich niemals mit einem Sichtbaren. Quinn hatte diese Regel gebrochen. Su war sein Regelbruch, und sie war ihm überaus dankbar dafür, auch, wenn der Sinn dieser Regel ihnen beiden schon sehr bald nachdem sie Freundschaft geschlossen hatten, klar wurde. Die meiaten Menschen waren nicht sonderlich begeister von Stimmen, die aus dem Nichts heraus zu ihnen sprachen. Besonders Erwachsene hatten mit panischem Kreischen reagiert, aber auch die meisten Kinder. Die übrigen hielten Su für verrückt.
Trotzig hatte sie sich daraufhin von ihnen abgekapselt. Wer nicht mit ihrem Freund Quinn zusammenspielen konnte, sollte gefälligst auch auf sie verzichten. Und so hatte ihre Freundschaft gehalten, auch,  als sie älter wurden, und Su eigentlich lange zu alt für unsichtbare Freunde gewesen war. Mit der Zeit war mehr daraus geworden.
Quinn konnte keine Dinge in der sichtbaren Welt berühren und schon gar nicht bewegen. Nur ganz leicht, wie einen warmen Windhauch, spürte Su seine in ihre verschränkten Finger. Es war deutlicher zu spüren, wenn Rauch oder Nebel in der Luft waren.
Sie hatte aufgehört zu zählen, wie oft sie beide schon in ihrem dunklen Zimmer vor einer verloschenen Kerze gesessen hatten, nur, um in ihrem Qualm einander die Hand halten zu können.
Sie hatte niemandem von Quinn erzählt. Nicht einmal Jess. Und sie wusste ganz genau, was die Leute dachten, wenn sie sie alleine in einsamen Ecken des Schulhofes sitzen sahen.
Aber die Leute wussten nicht, dass sie nur in den allerseltensten Fällen wirklich alleine war.
"Weißt du wie viele Sternleinstehen..", begann Quinn zu leise zu singen.
"Ein paar Billionen zu viel, du Kindskopf", neckte Su liebevoll. Quinn sang sehr gut.
"Als ich kleiner war, habe ich mir immer vorgestellt, dass auf einem dieser Planeten nur Unsichtbare leben", fuhr Quinn verträumt fort, "Aber in einer richtigen Welt. Mit Tischen und Stühlen und allem, so, wie die Sichtbaren es hier tun."
Su nickte.
Sie wusste, was für Hindernisse das Leben einem unsichtbaren Menschen in den Weg stellte.
Die einzigen Gegenstände oder Dinge, die sie tatsächlich bewegen konnten, waren die, die auch unsichtbar waren. Und leider traf das nur auf die Körper der anderen Unsichtbaren zu, was diese zur einzigen Ressource machte.
Und in einer Welt, in der es keine Regeln gab, solange sie unter sich blieb, bedeutete es, dass es genügend Gangs und Banden gab, die sich aus den Knochen ihrer Opfer Waffen gebaut hatten und nicht davor zurückschreckten, einen etwas schlacksigen Halbwüchsigen wie Quinn um die Ecke zu bringen, um aus seiner Haut eine neue Jacke zu machen.
Es bedeutete auch, dass diejenigen Unsichtbaren, die wie Quinn nicht vom Töten leben wollten, erhebliche Probleme in ihrem Alltag hatten. Ein häufiger Trick war, und daran, hatte Quinn erzählt, erkannten die passiven  auch einander, war, sich aus dem eigenen Kopfhaar eine unförmige Tunika zu knüpfen. Man ließ seine Haare lang wachsem, schnitt sie dann ab und verarbeitete es in mühsamer Handarbeit zu Kleidung.
Seine einzigen Werkzeuge waren zwei dünne und geschnitzte Fingerknochen, die er von Josh geschenkt bekommen hatte, und Josh wiederum von dem Mann, der ihn aufgezogen hatte. Erbstücke wie diese waren in der Unsichtbaren Welt mehr wert als Wasser in der Wüste.
Am Ende der ruhigen Straße kam Sus Haustür in Sicht.
"Kommst du noch mit rein?", fragte sie Quinn.
"Naah. Ist schon spät. Wir sehen uns morgen", sie blieben im Hauseingang stehen, "aber es war schön, mal wieder mit die zu tanzen. Wir sollten das öfter machen."
Su schnaubte: "Ja, genau. Hast du  bemerkt, wie diese Idioten uns angesehen haben?"
"Dich angesehen haben, meinst du wohl", merkte Quinn belustigt an.
"Spinner"
Su spürte, wie etwas von dem Gewicht einer Feder ihre Lippen streifte.
"Schlaf gut", wünschte Quinn.
"Du auch", antwortete Su leise.
"Und pass auf dich auf!", rief sie ihm hinterher, ohne zu wissen, ob er überhaupt noch da war.
Alleine zog sie die Haustür hinter sich zu.
Es war eine ihrer größten Ängste, dass Quinn eines Morgens einfach verschwunden sein könnte.
Denn sie wusste, sie würde nie eine Leiche finden.

BatsongWo Geschichten leben. Entdecke jetzt